Samstag, 15. Dezember 2007

Dezember 2007


(erschienen in ensuite: Nr. 60 Dezember 2007 S.9)

Ballet Béjart
80 Jahre ist Béjart alt geworden und hat gerade sein neuestes Stück zu Jules Vernes "Le Tour du Monde en 80 Minutes" erarbeitet. Sein letztes. Wollen wir ihm huldigen, so können wir es in Kürze in Lausanne betrachten. Der klassisch ausgebildete Béjart hat seine choreographische Stimme mit Birgit Cullberg 1951 gefunden. Stimmen werden mit dem Alter nicht unbedingt kräftiger, aber sie verdienen für Stücke wie Sacre du Printemps (1959) und Boléro ‘(1961), getanzt vom legendären Jorge Donne, unseren Respekt.
Ort: Théâtre de Beaulieu Avenue Bergières, Lausanne Tel. 021 643 33 33 www.theatredebeaulieu.ch
Aufführung: 20.-23.Dez. und 26.-30. Dez. 20:00 Uhr, Sa/So jeweils 18:00 Uhr


Ecole-Atelier Rudra Béjart
Den 15. Jahrestag der Schule Béjarts gibt es “Prologue” und "Tchekov au bois dormant" zu sehen. Vierzig junge Tänzer aus aller Welt bekommen zwei Jahre die vielleicht vielseitigste Ausbildung, wobei Tanz nur die Basis bildet, um ihre eigene Sprache zu finden. Welch ein Zückerchen für die Studenten, vom Meister die Choreographie der Schulaufführung erstellt zu bekommen…
Ort: Théâtre de Beaulieu Avenue Bergières, Lausanne Tel. 021 643 33 33
Aufführung: 22. Dez 15:00 Uhr

Die Anfänge des Modern Dance Folge II


(erschienen in ensuite: Nr. 60 Dezember 2007, S. 8-11)

Doris Humphrey und ihr Nachfolger José Limón

Doris Humphreys Reife

“Komm mir nie wieder unter die Augen! Und ich mein es so!” Ted Shawn rannte in den 20ern seiner Protegée Martha Graham hinterher, zum Taxi, und schmetterte dessen Tür so zu, dass die Scheibe zerbrach. So heisst es in einer Biographie Grahams aus den 50ern.
Gleichzeitig versuchte auch die zweite Protegierte der Denishawn (Ruth St. Denis’ & Ted Shawns Schule und Companie), Doris Humphrey, sich vom künstlerischen Ziehvater zu lösen. Nur: bloss kein Scherbenhaufen! Auch sie hatte das selbe Motiv, Denishawn machte zuviele künstlerische Zugeständnisse an Hollywood und Broadway. Ein schwer verdaubarer Vorwurf für einen ehemaligen Pionier wie Ted Shawn.
Doris Humphrey gründete 1922 ihre eigene Companie, ohne sich ihren Lehr-, Assistenz- und Solo-Verpflichtungen bei Denishawn zu entziehen. Jahrelang rang sie um bessere künstlerische Bedingungen, um loyal bleiben zu können. Statt einer künstlerischen Diktatur wünschte Doris einen demokratisch funktionierenden Leitenden Rat. Dieser wurde 1928 schliesslich berufen. Nur ohne sie.

Mündige Gemeinschaft und künstlerische Exzellenz

In ihrer eigenen Companie, der Humphrey-Weidman group, konnte sie ihr doppeltes Ideal verwirklichen: eine reife Künstlergemeinschaft mit Mitspracherecht einerseits, künstlerische Excellenz andererseits. Ihre Freundin und Gefährtin war Pianistin und Managerin, Charles Weidman war Solist und Choreograph, José Limón stiess 1931als Tänzer dazu. Sie bildeten eine Art Kibbuz und betrachteten sich als eine Familie, die bis zu 7 Mitglieder zählte. Einer stand für den andern ein, übernahm dessen Lehrstunden in Ausfallzeiten oder unterzog sich solidarisch dessen Heildiäten. Aus dem Lohn von Broadway-Shows erwarb Charles eine Farm, in der die Companie ihren Urlaub verbrachte. Die Beziehungen untereinander waren wohl vielfältiger Natur. Diese ward erst überschaubarer, als Doris sich an einen englischen Seemann, genauer Marineoffizier, band. (Das Betätigungsfeld der “Kibbuz”-Familie erstreckte sich bald auch auf das Babysitting). Noch überschaubarer ward sie Jahre später, als José Charles und die Companie verliess: Die Pianistin managte es, sich mit José Limón zu vermählen und ihn für die Companie wiederzugewinnen.

Stand die Gruppe über dem Individuum? Eine soziale Frage

Welchen Stellenwert ein Individuum in solch einer Gruppe hat, fand Doris entscheidend. Eine funktionierende Gemeinschaft um ihrer selbst willen fand sie unbefriedigend. So verwarf sie bevormundende Ansprüche auf die Loyalität ihrer Mitglieder. Doris war sich des Widerspruchs in ihrer Forderung bewusst, wenn sie von den Künstlern und Tänzern verlangte, wahrhaft zu sich kreativ zu sein und gleichzeitig die Gruppe zu spüren. Das Ziel waren mündige Tänzer. Sie förderte die schöpferische Fähigkeit jedes Einzelnen, auch wenn anschliessend Mitglieder der Companie sich selbständig machten. Individuum versus Gruppe und Masse war ein brennendes Thema seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als die zunehmende Industrialisierung und Vermassung der Städte dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung jedes Einzelnen gegenüberstand. Die soziale Ungerechtigkeit verschärfte sich zur Zeit der grossen Depression, die Klasse der Arbeiter organisierte sich, und der Moderne Tanz blieb davon nicht unberührt. José erinnert sich an heiss geführte Diskussionen des Jahres 1936. Er habe Doris und Charles aufgefordert, ihr Talent in die Dienste der nahe bevorstehenden und unausweichlichen Revolution zu stellen. Doch sie wiegelte anscheinend ab, ihre “Werke sind in erster Linie die der Kunst (…) und mögen sich keiner Herrschaft, welcher couleur auch immer, unterordnen.”
Im Gegensatz zu Martha Graham, die ihre Besorgnis um die Gesellschaft mit dem Solostück “Lamentation” (1928) kundtat, stürzte sich Doris mit Überzeugung und viel Genugtuung in die Gruppenarbeit. Das sehr formale Stück, wenn auch mit dem konkreten Titel “Water Study” (1928), probiert aus, wie die Energie und Bewegungsphrase Einzelner in eine Gesamtbewegung der Gruppe nach und nach eingespeist werden kann, was eine neue Dynamik generiert. In “Water Study” kommen einige Tänzer von einer Bühnenseite wie Vorreiter einer anschwellenden Woge herein. Sie werden ab Bühnenmitte unter der nachrückenden “Wasser”oberfläche (wohl unter den Füssen der Nachhut) wieder zurückgesogen (und gezogen). Um mit einem Atemholen von Neuem anzusetzen. Die Wiederholung bringt den flauen und stetigen Wellengang. Auf diesen kommt von der gegenüberliegenden Bühnenseite ein ähnlich an- und abschwellender Wellengang zu. Die Steigerung auf beiden Seiten in je eine sich aufbäumende Woge kommt zustande, wenn die rhythmisch und räumlich verstreuten Bewegungsimpulse sich in der Bühnenmitte, der Spiegelachse, verdichten, die Tänzer einzeln nicht mehr auszumachen sind. Die bereits an dieser Achse befindlichen Tänzer verzögern ihre Phrase, die hinzustossenden holen auf, sodass sie schliesslich unisono über-mannshoch in einem Sprung emporschnellen. Zwei Wellen, die aneinander brechen. Wenn man bedenkt, dass nur das geräuschvolle Einatmen und das Aushauchen die Impulse liefern und die Phrasen begleiten (es gibt keine Musik), wird verständlich, welche Empfindlichkeit jeder Einzelne entwickeln musste, um den anderen und dessen Dynamik wahrzunehmen, in die er seine eigene einbringen musste. Es gab Tänzer, die diese Erfahrung so bereichernd fanden, dass sie dieses kurze Stück zu ihrer bevorzugten Choreographie erklärten. In anderen Stücken thematisiert Doris Humphrey das Verhältnis Individuum-Masse. Hier bildet es nur die Struktur und den formalen Aspekt. Das Stück ist nicht konkret ein Produkt der beiden Ideale Demokratie und schöpferische Qualität. Es liefert nicht den Beweis für die Vereinbarkeit beider im Schaffensprozess. Nicht im engen Sinne. Die über die selbstbestimmte Arbeitsgemeinschaft erreichte Qualität des Stückes, welche wiederum den Einzelnen bereichert, war indes ein Konzept, das aufging. Es bildet zudem ihre choreographische Handschrift. Und welche Handschrift ist für den Betrachter spannender zu entziffern: eine, deren Tänzer eine komplexe Woge erwirken oder eine, deren Tänzer synchron den Schritt des Vorder- und Nebenmanns in den Raum duplizieren?

Weichenstellung für den Modernen Tanz

Mündig sollten nicht nur die Tänzer, sondern auch das Publikum werden. Zu Beginn interessierten sich nur skurrile Figuren und linke Intellektuelle New Yorks für den Modernen Tanz. Sollte eine breite Bevölkerung mit ihm bekannt werden, musste der Tanz auf Tournee. Das amerikanische Theatersystem hat ohne Unterstützung der öffentlichen Hand auszukommen. Tourneen sind daher kostspielig und gehen auf eigenes Risiko. Dennoch forcierte Doris solche monatelangen Tourneen. Als Aufführungsort war der Campus beliebt - in Amerika sind Bühnen oft in Siedlungen auf dem Hochschulgelände zu finden -, wo bereitwillige Studenten beim Auf- und Abbau den Tänzern, der “Familie”, zur Hand waren. Um den neuen Tanz vor Ort den Leuten schmackhaft zu machen, lieferte Doris einem Campus zu der Vorstellung eine Einführung nebst getanzten Werkauszügen gleich mit. Theoretische Hintergründe erörterten die Pioniere des Modernen Tanzes in einer öffentlichen Vorlesungsreihe, die der Tanzkritiker der New York Times organisierte. Da ging es aber nicht immer nur beschaulich zu. Solche Orte verkamen schnell zum Schauplatz des Kampfes zwischen Klassik und Moderne. Michael Fokine, der erste Choreograph des berühmten Ballets Russes, war immer dabei. Er setzte mit höhnischen Zwischenrufen dem Vortrag Mary Wigmans, einer emigrierten deutschen Ausdruckstänzerin, zu. Als Martha Graham an die Reihe kam vorzutragen, und er sich derart hervortat, trat sie dicht an ihn heran und sprach laut und hörbar: “Sie sind nicht gekommen, um zu verstehen oder wenigstens zuzuschauen, sondern sich zu belustigen. Ich wünschte, Sie gingen. Gehen Sie!” Und sie wartete, bis er ging. Die (ästhetische) Erziehung verbreitete sich aber auch über die Lehre. Von der ersten Stunde an unterrichteten die Begründer des neuen Tanzes an unterschiedlichsten Plätzen und nicht selten, aus finanzieller Not, auch Laien. Mit der Zeit aber kamen Tanzlehrer aus der Provinz und auch Tänzer der sich mehrenden Companien. Doris konnte nun Kurse für Fortgeschrittene anbieten. Hier analysierte sie Ausschnitte ihrer Tänze und unterwies die Teilnehmer in Choreographie. Doris’ reflektierte Art wurde legendär. Die bei diesen Kursen gesammelte Erfahrung war der Grundstein für das Buch “Die Kunst, Tänze zu machen” (1959). Es ist durchzogen vom aufklärerischen Geist, der unbedingt dieses (ach so verworrene!) Sujet verständlich machen will. Das Buch ist anschaulich gestaltet mit beigelieferten Zeichnungen und Übungsaufgaben und zugleich analytisch, die damals etablierte Gestalttheorie wie auch Wahrnehmungspsychologie sich zunutzemachend. Gewollt oder ungewollt, der Einsatz Doris Humphreys in Theorie und Praxis diente letztlich der Verbreitung und Verbesserung des Modernen Tanzes.

José Limón

José hatte ein bewegtes und dramatisches Leben. Er war das erste von 12 Kindern eines Musikdirektors und erlebte mit sieben die blutige Revolution in Mexiko. Sein Onkel wurde in Anwesenheit der Familie vor seinen Augen erschossen. Nachdem der Vater eingezogen wurde und jahrelang in der Armee diente, entschloss er zu emigrieren. Während der Zugfahrt nach Los Angeles wurde der junge José Zeuge einer Exekution, sein Geschwisterchen fieberte auf der Reise und starb bald darauf. Er war 18 Jahre, nur die Hälfte der Geschwister war noch am Leben, als in Los Angeles seine Mutter in Folge einer Schwangerschaft verschied. Dem Vater sagte er: “Warum weinst Du? Du hast sie getötet, und Gott liess es zu.” Er lastete den Tod seinem Vater und der kirchlichen Doktrin an und verliess die Familie. Er studierte Malerei und folgte seinen Boheme-Freunden. Als er den vielleicht beeindruckendsten Ausdruckstänzer der Zeit zu Gesicht bekam, fühlte er sich zu neuem Leben erweckt. Er begann ohne zu zögern bei Charles Weidmann, einem Mitglied der besagten Künstlergemeinschaft, und Doris Humphrey zu studieren. Bald wurde er von ihr aufgenommen. Sein gewinnender Charme und überaus männliches Auftreten blieben bei Aufführungen nicht unbemerkt. Er hatte sicher einen grossen Anteil am allgemeinen Erfolg. 10 Jahre währte die Lebensgemeinschaft, unterbrochen nur vom Wehrdienst, dann suchte Limón nach einer anderen Zusammenarbeit. Mit vielversprechenden Choreographien wandte er sich an Doris, die ein 2 ½ stündiges Stück über seine Heimat, Indios, Conquistadores und Revolucionarios auf eine halbe Stunde kürzte. Gestrafft erhielt es grossen Zuspruch. Die Presse rühmte im Namen von Intellektuellen und Nicht-Tänzern, dass “echte Männer” “echte Männerthemen” im Tanz behandeln. Meist zeugten seine Themen von sozialpolitischem Engagement, die Würde des Menschen hochhaltend und Missstände anprangernd. Als später, zur Zeit der verspielteren Postmoderne, einmal ein Companiemitglied fragte: “Warum noch sich für Werte abmühen, ich meine, kümmert es die Leute überhaupt noch?” - da sammelte er sich, riss all seine Kräfte zusammen und antwortete: “Solange einer wie Nixon im Weissen Haus sitzt, solange bedarf es jeder Faser unseres Engagements”. Hatte nicht der ehemalige Limón-Solist und Gastchoreograph in Bern, Doug Varone, vorigen Monat im Interview auf den aktuellen Präsidenten verwiesen? Auf die Frage nach der Wiederentdeckung von Limón antwortete er: “So wie das Land die letzten 10 Jahre regiert wurde, entstand ein gemeinsames Anliegen: Die Choreographen wollen wieder etwas Bedeutungsvolles sagen, von einem sehr menschlichen Blickwinkel aus.”
Zurück zu den 40ern. Über Jahre hielt das damals unübliche Betreuungsverhältnis zwischen José und Doris vor. Dann institutionalisierte sich diese Beziehung, Limón gründete 1945 seine Companie und Doris wurde künstlerischer Direktor. War sie ein kaltes Superhirn, das ihre Tänzer manipulierte?, fragten manche. Wahr ist, dass Limón künstlerisch reifer wurde und Auszeichnungen in Amerika sowie Anerkennungen auf seiner Europa-Tournee ohne viel Verweis auf Doris entgegennahm. Doris zog sich daraufhin zurück. Mit der Zeit wurde sie zunehmend gebrechlich. Als sie an Krebs erkrankte, und José es erfuhr, war er innerhalb einer Woche zur Stelle. Und zwar samt Ehefrau in einer Wohnung nebenan. Doris empfing seine täglichen Besuche mit der alten Natürlichkeit. Am Tag ihres Todes notierte er bewundernd in sein Tagebuch: “Starke Leute fragen nie nach Liebe, sondern geben sie.”

Limòn-Technik

Die Limón-Technik wird wie die Graham-Technik heute noch an den berühmtesten der traditionsreichen Tanzschulen gelehrt: an der Juillard-School in New York, an der Folkwang-Schule in Essen, an der Rotterdamer Tanzakademie, an der Rambert-School in London. Was findet man in der Technik wieder, so wie sie sich heute präsentiert? Ohne Zweifel hat Limón über die jahrzehntelange Führung seiner Companie seinen kraftvoll-virilen Stil weitergegeben. “Nicht genug”, klagt Doug Varone. In der Limón-Technik findet man heute ganze Phrasen und Abläufe aus Doris Humphreys Choreographien wieder, die ihre fleissigen Tänzerinnen sorgfältig zu Blatt gebracht und veröffentlicht hatten. Ganz klar, das Prinzip des Fallens und Rückfederns ist tragend: Wenn der Ruhepol eines ausbalancierten Körpers, der aufrechte Stand etwa, bewegungstechnisch ein Tod genannt werden kann, so ist das Darniederliegen nach einem Fall ein ebensolcher. Doris machte aus dem Hin-und-Her dazwischen ein Bewegungsprinzip. Sie schwang sich oft in hohem Bogen aus dem balancierten Stand in einen Fall und sammelte aus der Landung wie ein Ball die Enegie zum Rückfedern. Mit dieser Energie schnellte sie wieder in die Ausgangsstellung zurück. Analog zum Leben nannte sie das den “Bogen zwischen zwei Toden”. So kam es, dass ein Solist Limóns (Lucas Hoving) nach vielen Jahren einen Tanz mit einer ehemaligen Doris Humphrey-Tänzerin machte und ausrufen konnte: “Ach was! Diese drops und rebounds sehe ich zum ersten Mal!” und später, nämlich als Direktor der Rotterdamer Akademie: “Ich erarbeite sie in meinem Unterricht, weil ich es damals sah. (…) Mit José spürte ich nie, dass es ein absolutes Pinzip war wie Grahams contractions.”

Samstag, 1. Dezember 2007

Urs Dietrich


erschienen im Tanzjournal, Heft 6, 2007


Donnerstag, 15. November 2007

Drei Choreographen und ihre Tradition

(erschienen in ensuite: Nr. 59 November 2007, S. 6-7)

Bald präsentieren drei Choreographen von unterschiedlichen Landstrichen ihre Werke in der Schweiz: Hans van Manen, Doug Varone und Cathy Marston. Die Verschiedenheit ihrer Stile hat mit der Tradition zu tun, aus der sie stammen. Ihre Stile sind dechiffrierbar. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des modernen Tanzes (siehe Oktober-Ausgabe, Teil 1 Die Anfänge des Modern Dance) verstehen wir die Unterschiede.

Parallelentwicklung im 20. Jahrhundert

Im 1. Teil der Serie über die Entwicklung des Modern Dance sahen wir, wie zwei Stränge parallel den Tanz des 20. Jahrhunderts formten. Die Ballets Russes machten den Tanz populär und erhoben ihn mit der ausgefeiltesten Technik der Zeit in den Rang angesehener Kunstsparten wie Musik und bildende Kunst. Was die Qualität und die Modernität der Choreographen angeht, steht offen, ob diese den an den Ballets Russes beteiligten Künstlern Picasso und Strawinskij das Wasser reichen vermochten. Man kann sich fragen, ob die Choreographen nicht vielmehr Musik und Dekor zu füllen hatten und ihrem Impresario Diaghilev, der vormals Bilderausstellungen vorführte, diese nun theatralisch ausschmückten.
Der zweite Strang, der den Tanz im 20. Jahrhunderte bildete, bestand aus Erben des freien Tanzes. Der barfüssige freie Tanz spross an verschiedenen Stellen aus dem Boden, fand aber in Zentren wie dem Monte Verita oder dem Dalcroze-Institut in Hellerau bei Dresden viele Anhänger. Isadora Duncan und Mary Wigman waren darunter. Eine weitere nennenswerte Tänzerin aus dem Kreis wäre Marie Rambert. Erben dieses freien Tanzes, die in seinem Geist aufwuchsen, aber zunehmend anspruchsvoller wurden, begründeten den Modern Dance und hiessen Martha Graham und Doris Humphrey.

Unglückliche Verknüpfungspunkte

In der Ästhetik der beiden Strömungen findet man kaum Gemeinsamkeiten, ausser der Verwendung zeitgenössischer Musik etwa. Eine herausragende Ausnahme bildet der Tänzer und Choreograph Waslav Nijinskij. Die kantige und erdige Choreographie seines Sacre du Printemps bewerten manche Geschichtsschreiber als seiner Zeit voraus. Doch vielleicht gibt es eine andere Erklärung. Nijinskij, ohne nennenswerte musikalische Ausbildung, war mit den wechselnden Taktarten, die in Strawinskis Musik teilweise simultan vorkamen, überfordert. Diaghilev stellte ihm Marie Rambert aus dem Dalcroze-Institut an die Seite und sie assistierte Nijinskij 1913. Statt seiner Zeit voraus war Nijinskij vielleicht einfach empfänglich für sein Umfeld und den neuen Tanz seiner Zeit. Als Nijinski durch seine Heirat bei Diaghilev in Ungnade fiel und die Ballets Russes verliess, wurden seine bei Tänzern wie Publikum unbeliebten Stücke abgesetzt.
Einen zweiten Verknüpfungspunkt gab es im Jahr 1929. Wie in der 1. Folge erwähnt, zerfielen die Ballets Russes mit dem Tod Diaghilews in 1929 und ihre Choreographen und Tänzer waren in den Metropolen umworben, an königlichen Theaterhäusern hofiert. So wurde 1929 Leonide Massine, Nijinskis Nachfolger, nach New York geladen, um seine Version des Sacre du printemps zu zeigen. Der Dirigent der MET, Leopold Stokowski, verpflichtete Martha Graham für die Hauptrolle. Massine plagte sich viel mit ihr herum. Auch Martha Graham fand ihn alles andere als inspirierend.
Die verzweifelten Wiederbelebungsversuche der ehedem erfolgreichen Ballets-Russes-Tourneen, kommentierte Louis Horst, der Mentor Martha Grahams, wortkarg mit "démodé". Der einflussreiche Amerikaner Lincoln Kirstein war anderer Meinung und beauftragte George Balanchine, den letzten Ballets Russes-Choreographen, das American Ballet zu bilden. Sein Neoklassizismus formte das Tanz-Image der MET über ein halbes Jahrhundert. Geteilt war auch die Presse. Dance Magazine berichtete nur über klassischen Tanz, Dance Observer wurde zum Sprachrohr des Modern Dance.

Drei Choreographen von heute wurden nach ihrer Tradition befragt und waren bereit, ihre Wurzeln aufzudecken:

Hans van Manen

Der berühmte holländische Choreograph Hans van Manen feiert dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Mehrere europäische Hauptstädte versäumen nicht, ihm zu huldigen. Ab dem 27. Oktober ist sein Stück Concertante (1994) in Bern zu sehen.
Hans van Manen wurde nur im klassischen Tanz geschult. Seine Lehrer standen in direktem Bezug zu Tänzern und Choreographen der Ballets Russes, die sich in Paris niederliessen. So nimmt es nicht Wunder, wenn sein Choreographiestil sich früh auf Balanchine hin ausrichtete. "Er war immer mein grosses Vorbild gewesen". Doch auf die Frage nach der Tradition, in der van Manens Frühphase gebettet ist, präzisiert er, dass in den 60ern neben Balanchine auch Martha Graham und Merce Cunningham nach Amsterdam kamen. Beide schätzte er sehr. Und gleich fällt ihm ein: "Ich sah den wunderbaren bodenlangen Priesterrock Martha Grahams. Sofort fragte ich eine amerikanische Tänzerin, wie er geschnitten war. Ich brauchte für meine Grosse Fuge einen, der flatterte und die aggressiven Männerschritte betonte." Wahr ist, dass er in der Grossen Fuge den Grahm'schen Backfall eingebaut hat. Das ist eine Kontraktion im Rücken, welche aus dem Stand nach hinten in einen kontrollierten Fall führt und auf dem Boden sich rücklings erstreckt. In einem Stück, das die kraftvolle Dynamik des Vertikalen und Aufrechten betont, ist der Boden ein willkommener Kontrapunkt. Das Berner Publikum hat das markante Stück seit 1998 noch sicher in Erinnerung. Das Züricher Publikum dank Spoerli seit 2001. Ob von amerikanischen Gastspielen beeindruckt oder "aus zweiter Hand" über seinen amerikanischen Partner in der Direktion des NDT (Nederlands Danse Theater) Glen Tetley, fest steht: es spricht für Hans Manen, wenn er sich von unterschiedlichsten Quellen inspirieren und sie organisch in seinen Stil einfliessen lässt. So überwindet er alsbald seine neoklassischen Anfänge. "Die Bodenarbeit wurde mir wichtig und sie reformierte das Ballett", resümiert er.
Hans van Manen ist auch für seine Musikalität berühmt. Angesichts der Bemühungen der Pioniere des modernen Tanzes, die Unabhängigkeit des Tanzes von der Musik zu eruieren, indem sie ohne Musikbegleitung den Rhythmus durch den hörbaren Atem und Schritt kreierten, was ist für Hans van Manen Musikalität? "Auch ich habe meine Tänzerin auf ihre über Lautsprecher verstärkten Herzschläge tanzen lassen. Ich sehe aber eine Tendenz, sich erneut der Musik zuzuwenden und eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit ihr zu wagen. Concertante ist musikalisch höchst anspruchsvoll. Musikalität bedeutet für mich: die Musik sehen und den Tanz hören".

Doug Varone, Choreograph in der Humphrey-Tradition

Der Amerikaner Doug Varone betrachtet sich als Choreograph aus der Humphrey-Linie in der 4. Generation. Wir werden in der kommenden Folge über den Modern Dance sehen, wie Martha Grahams Mitstreiterin Doris Humphrey ihre Tänzer von Anbeginn zum Choreographieren bewog und darin ausbildete. So den talentierten José Limon.
Doug Varone hatte verschiedene Tanzstile versucht, bevor er denjenigen Limons kennenlernte. Aber nur dieser Stil war es, der sich an seinem Körper sofort heimisch anfühlte. So beschloss er, sich in dessen Technik schulen zu lassen und wurde nahtlos in die Limon-Companie übernommen. Limon war da schon 6 Jahre tot.
"Wir stammen aus der Tradition, zu der wir uns urspünglich hingezogen fühlten". Doch die Tradition besteht nicht nur in der Verinnerlichung eines Stils und seiner Technik. Die Auffassung dahinter gehört dazu. "Zu Beginn meiner Tänzerkarriere in den 70ern gab es gehörige Unterschiede, wie Tänzer auf der Bühne präsentiert wurden. Limon zeigte Menschen als enorm verletzliche Wesen in einer Gemeinschaft. Diese Humanität im Werk schätzte ich sehr."
Die grossen Fragen stellten aber schon die Pioniere des Modern Dance. Limon stand da selbst schon in einer Tradition. Wenn die New York Times schreibt, es gäbe eine Wiederentdeckung des Limon, was ist damit gemeint? Doug Varone sieht zum jetzigen geschichtlichen Zeitpunkt, vor Augen führend, wie Amerika seit 10 Jahren regiert wird, ein Bedürfnis der Künstler, wieder etwas Bedeutungsvolles zu sagen. Und zwar von einem sehr menschlichen Standpunkt aus. Heraus kommen Geschichten, die alles andere als narrativ sind. Abstraktion, und Verspieltheit sind beiseitegeschoben, "vielleicht ist die Postmoderne passé", und er bricht in ein ansteckendes Gelächter aus.
Das in Bern zu sehende Stück Of the Earth Far Below hatte Doug Varone 2003 in New York live mit Steve Reich aufgeführt. Doug Varones Companie konnten die Schweizer 2002 im Rahmen der Steps#8 kennenlernen. Sie liessen sich überzeugen und spendeten lautstarken Beifall.

Cathy Marston

Zürich und Bern konnten die Engländerin Cathy Marston in den 90ern als Tänzerin schätzen lernen. Heute ist sie Ballettchefin in Bern. Ihre Traditionslinie führt nicht wie die van Manens oder Varones geradewegs zu ihren Wurzeln. "Sie ist ein wenig zirkulär" meint sie und lächelt. Cathy Marston wurde an der renommierten klassisch geprägten Royal Ballet School ausgebildet. Doch es standen ihr zwei Choreographielehrer zur Seite, die ihre choreographische Frühreife förderten - und sie mit der Rambert-Linie infiltrierten. Marie Rambert, die Verfechterin des freien Tanzes bildete sich nach ihrer kurzen Zusammenarbeit mit Nijinskij noch fort und gründete in London in den 20ern eine Schule. Innerhalb Englands ist diese noch heute die Adresse für eine Ausbildung in modernem und zeitgenössischen Tanz.
Als Cathy Marston 1994 in Zürich in die Compagnie eintrat, schlug just van Manens Concertante sie in Bann. Die "Holländer", neben van Manen auch Jiri Kilian, waren in England nicht bekannt, gestand sie. Auch Mats Ek, wurde ihr in London nur auf einem Video vorgeführt. Zürich bot ihr mit diesen Gastchoreographen eine wahre Erleuchtung. Als sie nach Luzern wechselte und auf den Engländer Richard Wherlock als Direktor traf, schloss sich der Kreis: der ehemalige Rambert-Schüler und -Tänzer benützte Bewegungen, die "schon in meinem Blut zirkulierten", verrät Cathy Marston. Mit dem anstehenden "Feuervogel" scheint sie aber wieder an die Tradition des Royal Ballet anzuknüpfen. Denn dort wurden narrative abendfüllende Tänze ohne Unterbrechung kultiviert. Statt Kreise, also eher Schlaufen...

November 2007


(erschienen in ensuite: Nr. 59 November 2007)

William Forsythe
Tanz ist out, Installation in? Wer dieser Meinung ist, der verpasse unter keinen Umständen Bill Forsythes dritte Installation Defenders im Züricher Schiffbau.
Ort: Schiffbau Halle 1, Zürich 044/ 258 77 00
Aufführungen: 4., 5., 6., 7., 8. Nov. Einlass von 19:00 h bis 21:30 h


Cathy Sharp
Die langjährige Basler-Ballett-Tänzerin Cathy Sharp präsentiert ihr neues zeitgenössisches Stück Short Cuts mit ihrer Companie am Holland Dance Festival in Den Haag. Mit dabei sind zwei Musiker der vor Kreativität sprühenden Gruppe Stimmhorn. Die Schweiz bekommt das Stück Ende Monat zu Gesicht und Gehör.
Ort: Theater Roxy, Basel. Tel. 079/ 577 11 11
Aufführungen: 28., 29., 30. Nov. 20:00 Uhr


Anna Huber
Auch in Bern gibt es neben der Hauptbühne (Tanz3 der neuen Ballettchefin) einen Platz für Tanz: Anna Huber ist Artist-in-Residence in der Dampfzentrale für die nächsten 3 Jahre. Neben HandundFuss zeigt sie ihr Solo Stück mit Flügel auf bekannte zeitgenössische (live-) Klaviermusik.
Ort: Turbinensaal Dampfzentrale, Bern. Tel. 031/ 310 05 40
Aufführungen: HandundFuss 09., 10. Nov. 20:00 h; 11. Nov. 19:00 h
Stück mit Flügel 16.,17. Nov. 20:00 h; 18. Nov. 20:00 h


Montag, 15. Oktober 2007

Die Anfänge des Modern Dance Folge I


(erschienen in ensuite: nr 58, Oktober 2007  S. 12-15)


I. Vorreiter des Modern Dance / Einflüsse

Die Künste heizen sich gegenseitig auf

Das 20. Jahrhundert brodelte bereits von den aufbrechenden Experimenten der Künste in ganz Europa, und das Brodeln erfasste auch schon Amerika, als die Begründerin des Modern Dance Martha Graham in den 20er Jahren ihre ersten (Choreographie)Schritte tat. Musik, Tanz, bildende Künste und Architektur heizten sich gegenseitig auf.
Auf dem europäischen Kontinent hatte 1909 der Impresario Serge Diaghilev mit der Begründung des Ballets Russes angefangen, dem Tanz Grössen der Musik und der bildenden Kunst wie Strawinskij, Picasso, Matisse, Bracque und Léon Bakst an die Seite zu stellen. Die fruchtbare Zusammenarbeit präsentierte sich über zwei Jahrzehnte in zahlreichen Tourneen in Europa, 1916/17 auch in Amerika und streute weithin ihre künstlerische Samen.
Die Tänzerin Isadora Duncan inspirierte barfüssig mit ihren lodernden Schals in Berlin und Paris den Jugendstil, die Ausdruckstänzerin Mary Wigman schulte sich ab 1913 beim Tanzlehrer und -theoretiker Rudolf Laban auf dem Monte Verita in Ascona, zu dessen Künstlerkolonie zeitweilig auch Hermann Hesse, Else-Lasker Schüler und Hans Arp gehörten. Sie teilten dort in einer Lebensgemeinschaft die pazifistische Anschauung, die Absage an Besitz und die Lust am neuentdeckten Nudismus. Auch Isadora Duncan weilte dort. Über Isadora Duncan gelangte auch von dieser Strömung her ein Einfluss nach Amerika, wie wir sehen werden.
Wie unterschieden sich die Einflüsse des Ballets Russes und des freien Tanzes?


Die 'Institution' des Ballets Russes und der freie Tanz

Im Ballets Russes waren die Tänzer am klassischen Ballett geschult. Diaghilev, der künstlerischer Berater am Marinskij-Theater in Petersburg war, doch bald in die Ungnade der Aristokratie fiel, warb die begabtesten Tänzer (darunter Nijinskij) samt ihres reformbereiten Choreographen Mikhail Fokine ab. Einer gemeinsamen Tradition verbunden führten sie ihren virtuosen Bühnentanz meist in einem grösseren und aufwendigen Ensemble auf. Dagegen versuchten Isadora Duncan wie auch der deutsche Ausdruckstanz im Allgemeinen, sich in individualistischen und improvisatorischen Solostücken von allen Konventionen zu befreien. Freilich tanzte auch Nijinskij 1912 in Après-midi d'un Faun auf Debussy barfuss und führte eckige und geometrische Figuren ein, doch schon bald nach ihm, er schuf nur zwei Ballette, setzte sich wieder ein neoklassizistischer Stil durch. Die Pioniere des modernen Tanzes hingegen konnten als einzelne Persönlichkeiten ihre individuellen Stile kompromissloser entwickeln. So gründete Isadora Duncan ihr eigenes Tanzinternat in Berlin, um - ihrer anti-kommerziellen Lebensphilosophie entsprechend - kostenlos Schüler auszubilden. Sie fühlte sich frei, Einladungen eines Théâtre de Champs-Elysée auszuschlagen, um sich von jeder Unterhaltungsstätte zu distanzieren. Mary Wigman gründete 1920 eine Schule in Dresden, um drei Jahre darauf mit der eigenen in ihrem Stil herangezogenen Tanzgruppe erste Auftritte zu gestalten. Freiheit und eine eigene Handschrift wollte dieser Tanz sich leisten.


Einheit von Leben und Werk

Während im Ballets Russes, ursprünglich vom russischen Symbolismus herkommend, keine individuelle Lebensanschauung zum Tragen kam, ging es bei Tänzern wie Isadora Duncan und Mary Wigman um die Einheit von Leben und Werk. So emigrierte Isadora Duncan 1922 aus Sympathie mit den sozialen und politischen Zielen der Revolution nach Moskau. (Sie kehrte jedoch zwei Jahre später zurück, da die russische Regierung ihre Projektversprechungen nicht einhalten konnte). Bald darauf führte sie eine Tournee nach Boston, wo sie auf der Bühne einen roten Schal schwenkend unversehens ihre Brüste enthüllte und verkündete: "This is red, and so am I!"
Umgekehrt war Serge Diaghilev mit dem Ausbruch der russischen Revolution nicht mehr zu einer Rückkehr nach Russland zu bewegen, so dass das neue Regime ihn der bourgeoisen Dekadenz einer besonders heimtückischen Variante bezichtigte. Sein Ballets Russes gastierte weiter auf den grossen Bühnen Europas und wurde zum ausverkauften gesellschaftlichen Grossereignis, das Publikum kleidete sich "à l'orientale" mit Turban und schmückte sich mit Federn.
Eine seelen- und stilverwandte Verehrerin Isadora Duncans war die amerikanische Tänzerin Ruth St. Denis. Beide feierten sie um die Jahrhundertwende in den europäischen Metropolen ihre Erfolge. Ruth St. Denis' Einheit von Leben und Werk war gewebt aus filigranen Fäden der Spiritualität. 1906 führte sie eine dreijährige Tournee mit einem hinduistisch inspirierten Tanz nach London und Paris, wo sie von August Rodin gezeichnet wurde, in Berlin und Wien, wo Hugo von Hoffmansthal einen Essay mit dem Titel "die unvergleichliche Tänzerin" über sie schrieb. Ruth St. Denis interessierte sich neben dem Hinduismus auch für die Theosophie in Amerika. Ihr Tanz war früh geprägt von einem Gymnastik-System nach der bewegungspädagogischen Theorie des Franzosen Francois Delsartes. Dieser suchte der unnatürlichen Entwicklung der Technik verschiedener aufführender Künste mit einer "Wissenschaft angewandter Ästhetik" zu begegnen, die nach dem Zusammenhang von Stimme, Atem, Bewegungsdynamiken und natürlichem Körperausdruck verschiedener Emotionen forschte. Auch Isadora Duncan orientierte sich an seinen Lehren. Die Lebenshaltung spiegelte sich in den Techniken wider, die diese Tänzerinnen anwendeten. Das Credo hiess: Hinter jeder physischen Geste birgt sich ein emotionaler oder spiritueller Zustand. Und eben dieses Credo verbürgte die angestrebte Einheit von Leben und Werk.

Beschwerlicher Werdegang des freien Tanzes in Amerika

Isadora Duncan und Ruth St. Denis versuchten beide ihre europäischen Erfolge in ihrer amerikanischen Heimat fruchtbar zu machen. Sie wollten den Tanz zu einer eigenständigen Gattung (es gab zu der Zeit weder Ballettensembles noch Tanzcompanien in Amerika) erheben. Isadora Duncan gab wegen mangelnder Unterstützungsbereitschaft und Geschmacksreife der Amerikaner bald auf. Ruth St. Denis suchte ihre Kunst mit eigenen Mitteln zu sichern und machte kommerzielle - aber auch stilistische - Zugeständnisse: sie rentabilisierte ihre Schule mit Tourneen und Varieté-Einlagen in Hollywood und dessen Filmen.
So bescheiden wie St. Denis und Duncan ihre teils autodidaktischen Anfänge in den Sommerresidenzen einer gutsituierter Mittelklasse vor Mitgliedern u.a. der aufkeimenden Frauenbewegung vorgeführt hatten, so fand eine weitere Vorreiterin des Modern Dance, Irene Tamiris, ihren Weg zum Tanz unter bescheidenen Verhältnissen: inmitten verarmter Arbeitersiedlungen, wo weisse Frauen der Mittelklasse kulturelle Siedlungshäuser gründeten (so in New York City, Chicago und Boston), teils zur Integration und Assimilation der Einwanderer, aber auch zur Wahrung von überlieferten Werten. Denn um diese war es in den 1910er und 20er Jahren nicht zum Besten bestellt. In den Tanzsälen der Städte feierte der populäre turkey trot, der Vorgänger des Foxtrott, zur Ragtime-Musik den Siegeszug (den selbst die Denunziation eines Vatikans nicht aufhalten konnte). In den Cabarets war nun revuehafter Showtanz gefragt, in dem die halb entblössten Tänzerinnen auf anpeitschende Musik ("immer wieder neu 32 mal und 64 mal" beschreibt Irene Tamiris) die Beine schwenkten. Im Kulturhaus ihrer Siedlung dagegen lernte sie, wie "die Bewegung von der Brust aus in Arme und Beine fliesst, ... jede Bewegung von der Körpermitte beginnt". Unter widrigen Umständen wuchs der amerikanische freie Tanz empor. Das Bewusstsein darum prägte ihre Pioniere. So wird Helen Tamiris, ein Zögling der kulturellen Wohlfahrtseinrichtung Neighbourhood Playhouse School mit proletarischem Geist ihre ersten Solos in den späten 20ern über soziale Unterdrückung, z.B. in Negro Spirituals choreographieren. Ihr Manifest war, dass der Tanz aus dem jeweiligen Zeitalter zu entspringen habe.

II. Die Begründung des Modern Dance

Martha Graham entwächst der Denishawn-Schule

Kaum hatte Ruth St. Denis mit ihrem Mann Ted Shawn, einem ehemaligen Theologiestudenten, 1915 in Kalifornien die Denishawn-Tanzschule gegründet, wirkte diese wie ein Magnet: nach wenigen Jahren kamen Martha Graham und Doris Humphrey, die eigentlichen Begründer des Modernen Tanzes, erstere, um hier ihre Tanzausbildung zu vervollkommnen, letztere zum Lehren. Die Besonderheit der Internatsschule war die Ausgewogenheit: Im Park wandelte man barfüssig mit Büchern (aus einer breitangelegten Bibliothek), Diskussionen und (z.B. Nietzsche-) Lesungen waren beliebt, Gastlehrer verschiedener Sparten kamen aus aller Welt. Louis Horst, ein aufgeschlossener amerikanischer Komponist, war für die musikalische Ausbildung verantwortlich, die Tänzer wurden nunmehr mit Eric Satie oder Skriabin eher percussiv denn melodisch begleitet. Martha Graham und Doris Humphrey avancierten bald zu Mitgliedern der Denishawn-Companie. Doch St. Denis' Hang zu einem Potpourri verschiedener Tanzstile und aufwendiger exotischer Ausstattung, mit dem sie nicht nur ein breites Publikum, sondern auch Hollywood gut bediente, befremdete die beiden anspruchsvollen Tänzerinnen zunehmend. 1923 kam es zum Bruch: Graham verliess die Denishawn-Companie Richtung New York, Humphrey kündigte im Jahre 1928.

Minimalistischer Stil

Bei der Entwicklung des eigenen Stils ist Martha Grahams (wie auch Doris Humphreys) sparsamer Umgang mit dem Bühnenbild und Kostümen augenfällig. Die Vermeidung eklektischer Elemente erlaubt eine Kohärenz, nach der es allem Anschein nach sowohl Graham als auch Humphrey dürstet. Dieses Bedürfnis nach Stringenz, das beide treibt, ist die Voraussetzung, einen einheitlichen Stil zu schaffen. Die andere Voraussetzung ist das besondere (ideelle) Fundament ihrer Technik, das tragfähig ist für jeweils ein eigenes ausbaubares System.
Was begünstigt nach einer eklektischen Epoche den Drang nach einem nüchternen kohärenten Stil? Das psychologische Motiv der Übersättigung, Abgrenzung und Abnabelung erklärt nicht die tieferen Beweggründe dieser modernen Künstler. Der Querverweis einer Gattung auf die andere berührt entsprechend nur die Symptomatik: "Wie die modernen Maler und Architekten haben auch wir das Medium von unwesentlicher Dekoration befreit. Genau so wie keine Verzierungen mehr an Gebäuden wahrzunehmen sind, so wird auch das Tanzen nicht weiter ausstaffiert". So äusserte sich Martha Graham in dieser Zeit (1930). Die wahren Beweggründe zur stilistischen Einheit und Kohärenz, die keine kompromittierende Zugeständnisse duldet, sind aber in der politischen und sozialen Auffassung der modernen Künstler zu suchen. Sie suchten zu erforschen und auszudrücken, was die Seele der Leute damals bewegte: soziale und gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Diese absorbierte die Pioniere des Modernen Tanzes, zwang sie zum Engagement, zu eigens entwickelten tänzerischen Stellungnahmen und verlangte Verbindlichkeit. Noch zu Zeiten des "unverschämten" Wohlstands der 20er schuf Martha Graham Solostücke wie Revolt (1927) auf die Musik Arthur Honeggers und Immigrant (1928), das die Ausbeutung der Arbeiterklasse behandelt. Nach der Weltwirtschaftskrise schuf Martha Graham das Solostück Lamentation (1930). Sie sitzt im Stück auf einem schwarzen Hocker in einem schwarzen Raum. Beleuchtet wird nur ihre enges, langes und elastisches Kleid, das wie ein dehnbarer Schlauch übergestülpt wirkt, und sie windet, biegt und krümmt sich darin. Die Bedeutung des modernen Tanzes, so schrieb der von der New York Times im Jahre 1927 eigens erkorene Tanzkritiker, sei dessen Fähigkeit, Emotionen durch strukturierte Form zu vermitteln. Der Modern Dance destilliert den Ausdruck zu klaren und strengen Formen.


Das Interesse an den Naturvölkern

Martha Grahams (formalästhetisches und thematisches) Interesse an afrikanischen und "einheimischen" Amerikanern, den Indianern, speiste sich aus verschiedenen Quellen. Zum einen widmeten sich die Maler, z.B. Picasso 1906/07, Sujets "primitiver" Kulturen. Es gab auch zunehmend ethnologische und anthropologische Studien. In der Musik wurde zu verschwinden drohendes Kulturerbe gesammelt, z.B. die Volkslieder des Balkans durch Béla Bartók. Der Pianist und Komponist Louis Horst, mittlerweile Martha Grahams Mentor, ermunterte diese, sich den "Primitiven" zuzuwenden. Er steuerte zu ihrem Stück Primitive Mysteries (1931) die Musik bei. Dieser "Trend" war die eine Quelle. Zum anderen gewann die afroamerikanische Kultur zusehends an Präsenz. Voyeuristisch labte sich ein weisses Publikum an schwarzen Showtänzerinnen und Musikern, die New Negro- und Harlem Renaissance-Bewegung war Ausdruck des erstarkten Selbstbewusstseins vieler Schwarzer, und nicht aufzuhalten war deren rhythmischer Einfluss in den Tanzsälen. Eine amerikaspezifische sozio-kulturelle Entwicklung bot also die zweite Quelle. Eine unbezwingbare Demarkationslinie bestand aber jenseits der Unterhaltungskultur. Diese Diskrimination zu überwinden war ein Ziel der Begründer des Modernen Tanzes: linke Gesinnung als dritte Quelle also für das Interesse an den Afroamerikanern und Indianern im Tanz. Der Moderne Tanz hatte die Vision einer neuen, pluralistischeren amerikanischen Kultur. Doch die Vision hatte ihre Grenzen: Als 1928 Helen Tamiris Negro Spirituals aufführte, in welchem sie die Unterdrückung der Schwarzen brandmarkte, betrat kein Schwarzer den Tanzboden (wohl aber sangen sie). Begabten dunkelhäutigen Tanzschülerinnen wie Edna Guy blieb der Zugang zu den meisten Tanzschulen verwehrt. In Ruth St. Denis' Denishawn-Schule wurde Guy geduldet. (Sie durfte gar bei Tourneen der Denishawn-Companie teilnehmen, aber nur als Assistentin in Sachen Kostümpflege etwa). Um später ausserhalb des Variété-Genres zur Geltung zu kommen, musste sie ihre eigene Companie gründen. In Harlem entstand auf dieser sozialen Schieflage bald die erste schwarze Tanzschule (1932). Aus diesen drei Quellen speiste sich die tatkräftige Erkenntnis der modernen Tänzer: die schwarze und einheimische Kultur kann ihren Beitrag zur Kunst und nicht nur zur Unterhaltung liefern.
Während Tamiris' und Grahams Interesse an den Naturvölkern politisch und ästhetisch motiviert waren, trieb viele Schwarze ein existentielleres Interesse: die Suche nach der eigenen Identität. Wenn Graham ihrem Interesse nachging, indem sie die Pyramiden der mexikanischen Inkas bestieg und deren rituelle und spiritualistische Sogwirkung zu verspüren meinte - ein Foto zeigt sie windumweht auf der Pyramidenspitze 1933 in Youcatan -, pilgerten Schwarze wie die Tänzerin Asadata Dafora 1935 im Rahmen anthropologischer Studien, als Feldarbeit einer vergleichenden Studie für die Northwestern University, zu ihren Vorfahren in die Karibik oder nach Afrika. Dort von den Einheimischen willkommen empfangen, studierte sie die tradierten Tänze und trachtete in der Verwertung ihres Materials nach Authentizität. Graham dagegen suchte in all diesen primitiven Kulturen eine universale Formsprache. Das Ergebnis beider Annäherungsweisen, Grahams und Daforas z.B., an das Primitive könnte unterschiedlicher nicht sein: Graham kreierte eine karge Mystik primitiver Formen oder grausamer Riten, Dafora schuf bewegliche und bunte Genrebilder eines karibischen Marktlebens oder authentische Tänze im Dschungel (z.B. in L'Ag'Ya aus dem Jahre 1938). Schwingende Hüften und stampfende halbnackte Schwarze waren in solchen Stücken willkommene Nahrung für die bestehenden Vorurteile über das Animalische und Sexuelle der Schwarzen. Die Kritiker verstanden nicht, dass diese Schritte nur einige, aber notwendige, in der ästhetischen Emanzipationsbewegung ausmachten. Martha Graham liess Primitive Mysteries noch weitere Tanzstücke dieser Art folgen: Primitve Canticles (1931), Ekstasis (1933), FreneticRrythms (1934), El penitente (1940).
Spannend ist vor diesem Hintergrund ein Bericht eines Zeitzeugen, der Martha Grahams Aufführung mit der des Ballets Russes wie folgt verglich : "Ich ging Graham anzuschauen in der Erwartung, noch schockierter zu werden als durch die Zusammenarbeit eines Picasso, Cocteau und Massine. Ich war nicht vorbereitet auf ihre Simplizität und war unfähig ihren authentisch primitiven Ausdruck wahrzunehmen. Für mich war 'primitiv' gleichbedeutend mit dem Primitivismus des Strawinsky eines Sacre und les Noces, mit seiner ganzen Palette an komplexen Farben, erlesenen Orchestration und historischen Bezugnahmen. Das Archaische war für mich der Archaismus eines Aprèsmidi d'un Faun, das Zeitgenössische war der Schick eines Parade oder les Biches. Diese einsame Tänzerin, die nicht einmal jung war, mit ihrer Truppe spartanischer Mädchen, die alle der stählernen Frau, die sie war, zu ähneln suchten, erschien mir naiv oder prätentiös, ich konnte es nicht entscheiden. Aber die Macht der Persönlichkeit dieser Frau faszinierte mich vom ersten Augenblick." 

Americana

Die Bestimmung der Identität der jungen Nation wurde zum vorrangigen Thema im Amerika der späten 30er Jahre, da es sich einer bedrohlichen faschistischen Entwicklung in Europa gegenüber sah. In Frage gestellt werden musste der Isolationismus, gestärkt werden mussten die positiven Werte, die die Demokratie ausmachten. In diesem Rahmen muss die Suche nach dem spezifisch "Amerikanischem" verstanden werden. Wenn der Musiker Louis Horst Charakteristika herausstreicht, die sowohl im Tanz als auch in der Musik eines Aaron Coplands z.B. Ausdruck finden, reihen sie sich nur scheinbar in die Rassen-Charakterstudien der Faschisten. ("Der Amerikaner vom Land hat sogar besondere körperliche Merkmale: Mädchen mit langen Beinen, Abenteurer, Persönlichkeiten mit langsamen Gesten"). Dennoch befällt einen bei der Betrachtung der Tänze wie Appalachian Spring (1944, Musik: Aaron Copland) ein ungutes Gefühl: wenn die Künste sich affirmativ verstehen, wo bleibt da das Spannende, Aufrührende, Vieldeutige? Ein Stück, das den optimistischen Geist der landgewinnenden Siedler im Zuge gen Westen mit dem Segen des Priesters versieht, ist kein vielschichtiges oder "tiefes" Werk. Dennoch, bei den Amerikanern ist es beliebt, sie können sich wohl in den weitausholenden Sprüngen des Siedlers im Land der unendlichen Möglichkeiten und dem Blick in die Ferne wiedererkennen. Man hat den Eindruck, dass alle Choreographen der Zeit, insbesondere während des Krieges sich mit dieser Identitätsfrage beschäftigten. Graham begann mit American Document (1938), Billy the Kid von Eugène Loring zur Musik Coplands (1938), Rodeo von de Mill (1942) u.a. folgten. Die mutigen Stellungnahmen der Pioniere des Modernen Tanzes fügen aber das Genre der Americana erst zum Gesamtbild: So schlägt z.B. Martha Graham 1936 eine Einladung zu den Olympischen Spielen in Berlin aus und gibt dazu eine Erklärung ab. Sie verurteilt darin offen die Verfolgung deutscher Künstler durch die Nationalsozialisten.
Nach dem Tod Diaghilevs und dem Zerfall des Ballets Russes wurden deren Choreographen und Tänzer von den verschiedensten königlichen Theaterhäusern angeworben. In Amerika erhielt das Metropolitan Operahouse eine eigenständige Tanzsparte und der letzte leitende Choreograph des Ballets Russes, George Balanchine, wurde samt dessen Neoklassizismus angeheuert. Im besagten Jahr der Uraufführung des Appalachian Spring (1944) schuf Jerome Robbins für dieses neue American Ballet das Stück Fancy Free, ganz in Western-Manier. Es war stilistisch eine Mischung. Jerome Robbins erweiterte den (neo-)klassischen Ballettanz um Elemente aus dem Modernen Tanz, dem Steptanz und dem synkopenreichen Jazztanz - inspiriert von den Bars in Harlem - zu Leonard Bernsteins Musik. Was noch 10 Jahre zuvor als frivol galt, war nun bühnenreif und Ausdruck "unseres einzigartigen nationalen Markenzeichens der Jugendlichkeit, Munterkeit und Humors", schrieb ausgerechnet die eher linksorientierte Zeitschrift New Masses. Die Verehrer des klassischen Balletts feierten dessen Verjüngung, die Verehrer des Modernen Tanzes befürchteten die Einverleibung durch den "kannibalistischen" Appetit des Balletts. Die Americana wird zum Melting-Pot nicht nur sozio-kultureller Unterschiede, sondern auch ästhetischer Stile.


Griechischer Zyklus

Nach der Americana folgt Martha Grahams griechischer Zyklus, in dem sie griechische Sagen, Dramen und Helden verarbeitete. Nach eigenem Bekunden ging es Martha Graham immer darum, etwas universell Gültiges aus den griechischen Mythen aufzuzeigen. So etwa wird bei The Cave of Heart (1946) das Schicksal Medeas als latente Möglichkeit, die in jeder Frau schlummert, als tiefenpsychologische Wahrheit verstanden. Ein Höhepunkt ist wohl der abendfüllende Tanz Clytemnestra (1958), das die Orestie in Zügen nachzeichnet. In ihrem griechischen Zyklus zeigt Martha Graham ihre choreographische und stilistische Reife. Mit den abendfüllenden und dramatischen Werken erweist sich der Moderne Tanz als mündige Alternative zum Ballett laut einem renommierten Tanzkritiker oder schlicht als dessen gültige Ablösung.


Graham-Technik und -System

In Anbetracht der stilistischen und technischen Einflüsse, die Martha Graham über Ruth St. Denis aufgenommen hat, nimmt es nicht Wunder, dass Atem und natürlicher Bewegungsfluss dem Ausdruck von Emotionen zugrundegelegt werden. Sie rekuriert nicht auf eine virtuose Technik als Instrumentarium, welches das klassische Ballett zur Verfügung hat. Wir erinnern uns an die Simplizität, von der ein überraschter Betrachter berichtete. Die Technik, die heute als Graham-Technik bekannt ist, hat sich systematisch, wenn auch nicht planmässig entwickelt. Sie ist auf ein derartiges Niveau gehoben worden, dass sie nahezu als äquivalent zur klassischen Ballettausbildung gelten kann. Wie ist das möglich? Es ist ganz und gar nicht so, dass jedweder Stil aus der Zeit potentiell ähnlich ausbaufähig gewesen wäre. Wesentlich ist eine tragfähige Idee. Und diese war in der genialen Erfindung der Entgegensetzungen des Contraction und Release gegeben. Contraction und Release betreffen beide wie das Aus- und Einatmen das Körperzentrum. Sie basieren auf dem Aus- und Einatmen und verwenden sie als Initiator von Bewegung. Das Ausatmen getrieben bis zum äussersten Ende ist eine Krümmung, das Einatmen deren Auflösung. Diese gegenläufigen Bewegungen bilden den Kern Martha Grahams Technik und durchziehen den Tanz wie Ebbe und Flut den Meeresgang. Genauer betrachtet: Contraction ist ein Zusammenziehen der Muskeln im Beckenbereich, Bauch und Oberkörper zu einer konvexen Krümmung, wie sie beim starken Husten oder Lachen entseht. Diesem Zusammenziehen steht, wenn man die Bewegung umkehrt, die Loslösung des "Verkrampfens" und zunehmende Entspannung bis hin zur Ausgangsposition gegenüber. Dieser "gespiegelte Bewegungsablauf" lässt sich aneinanderreihen und wiederholen. Insofern er im Körperzentrum stattfindet, kann man sich leicht vorstellen, wie er die Extremitäten involvieren kann: der Kopf wird beim konvulsivischen Endpunkt nach unten mitgezogen, die Arme rotieren leicht nach innen, die Knie geben nach. Umgekehrt ist leicht nachvollziehbar, dass bei der "Gegenbewegung", dem Release, die Bewegung nicht nur bis zur neutralen Ausgangsstellung, dem Stand, zurückgeführt wird, sondern darüberhinaus in eine Überdehnung geleitet werden kann. Das Brustbein hebt sich leicht in die Diagonale nach vorne. Hierbei wären die Extremitäten im umgekehrten Verhältnis involviert: die Arme kommen in ihre hängende Ausgangsstellung zurück und mit dem Heben des Brustbeins rotieren sie gar leicht nach aussen. Der Kopf richtet sich wieder auf und hebt sich gar leicht mit dem Brustbein. Die Beine erlangen wieder ihre usprüngliche Gestrecktheit; es wäre sogar eine aktivere Streckung, gar in Erhebung auf die Zehenspitzen denkbar: eine konsequente Erweiterung des Release. Die Ausbaubarkeit dieser "Gegenbewegungen" ist nun gegeben, in dem man sie nicht nur rück-und-vor ausrichtet, sondern etwas diagonal. Oder indem man sie leicht dreht, "twisted", ähnlich einer Spirale. Wenn man hinzunimmt, dass von nahezu jeder Ausgangsposition diese Contractions erfolgen können und egal in welcher Höhe, d.h. ob im Sprung, Stand, auf den Knieen oder am Boden, ahnt man die Mannigfaltigkeit, die Kombinationsmöglichkeit dieser Technik. Indem die Ausgangsposition ungeschadet auch eine klassische Ballettposition sein kann, ist klar: sie ist variierbar wie der klassische Tanz (ausgenommen dessen virtuose Entfaltung der äussersten Extremitäten: im Spitzentanz oder in den battus, dem Zusammenschlagen der Füsse). Die konvulsivische Position findet dagegen oft eckig angewinkelt ihren Endpunkt. Gerade diese Sprödheit und Hässlichkeit, die im Anschluss auflösbar ist, bietet ein grosses Potential für die Ansprüche der Moderne. Wichtig ist: der Ablauf der Positionen unterliegt dem beschriebenen Gesetz der Abfolge, die Positionen können nicht wie Bausteine (des klassischen Ballettrepertoires z.B.) beliebig aneinandergereiht werden. Diese Logik des so konzipierten Bewegungsflusses - mit dem Impuls aus dem Körperinneren - ist in meinen Augen, was die Graham-Technik so zwingend erscheinen lässt und zu einem einheitlichen Stil auswachsen lässt. Wir ahnen nun, warum sie die Eklektik einer Ruth St. Denis, die Improvisation einer Isadora Duncan einerseits und das Ballett andererseits stilistisch übertrifft. Letzteres übertrifft es, insofern Stil nicht mehr nur gefällig sein muss und Technik die Virtuosität bedient. Die Technik Martha Grahams entsprang einem zeitgemässen Stil und bediente nur diesen.

Samstag, 15. September 2007

September 2007


(erschienen in ensuite: Nr. 57 September 2007)

'I' is Memory
Lust auf Verunsicherung? Die Schnittstelle von kranker Anomalie und bestmöglicher Selbstbeherrschung sehen wollen? Wer diesen Schauder erleben will, sollte um keinen Preis die Kanadierin Louise Lecavalier in 'I' is Memory versäumen. Sie war langjähriger Star der bekannten virtuosen Kompagnie LaLaLaHuman Steps. Nach einem Unfall unterzog sie sich erst einmal alternativen Trainingsmethoden. Gebrechlichkeit bleibt ein Thema, und zwar ein konstitutives...
Im Rahmen der 20. Ausgabe des Festivals La Bâtie in und um Genf:
Ort: L'Esplanade du Lac/Divonne-les-Bains
Aufführungen: 12./13. September um 20:30 h


Alias Compagnie
Überraschung bietet sicher die Alias Compagnie aus Genf. Sie überraschte in den 90ern mit ihrer Virtuosität, die nur dem Unvorhersehbaren und dem Witz zu dienen schien. Seitdem hat sie sich stark dem Tanztheater angenähert. Einige werden Guilherme Botelhos abendfüllenden Frankenstein von letztem Jahr noch in Erinnerung haben und freuen sich sicher schon auf Approcher la poussière.
Im Rahmen der 20. Ausgabe des Festivals La Bâtie in und um Genf:
Ort: Théâtre Forum Meyrin
Aufführungen: 6.-8. September um 21:00 h
Infos: www.batie.ch / 022 738 19 19


Cie Nicole Seiler
Wen die einfallsreiche Einflechtung von Videokunst im Tanz interessiert, war bislang mit der Lausanner Cie Nicole Seiler gut bedient. Man sollte nur mehr auf Performance, statt Choreographie gefasst sein. Das über alle Medien aufgedrängte Schönheitsideal ist einmal mehr ihr Thema.
Im Rahmen des Festivals Sputnik:
Ort: Dampfzentrale Turbinensaal
Aufführung: 21./22. September 20:00 h

Samstag, 12. Mai 2007

Fabienne Berger


In den Freiburger Nachrichten am 12.05.2007 erschienen