(erschienen in ensuite: nr 58, Oktober 2007 S. 12-15)
I. Vorreiter des Modern Dance / Einflüsse
Die Künste heizen sich gegenseitig auf
Das 20. Jahrhundert brodelte bereits von den aufbrechenden Experimenten der Künste in ganz Europa, und das Brodeln erfasste auch schon Amerika, als die Begründerin des Modern Dance Martha Graham in den 20er Jahren ihre ersten (Choreographie)Schritte tat. Musik, Tanz, bildende Künste und Architektur heizten sich gegenseitig auf.
Auf dem europäischen Kontinent hatte 1909 der Impresario Serge Diaghilev mit der Begründung des Ballets Russes angefangen, dem Tanz Grössen der Musik und der bildenden Kunst wie Strawinskij, Picasso, Matisse, Bracque und Léon Bakst an die Seite zu stellen. Die fruchtbare Zusammenarbeit präsentierte sich über zwei Jahrzehnte in zahlreichen Tourneen in Europa, 1916/17 auch in Amerika und streute weithin ihre künstlerische Samen.
Die Tänzerin Isadora Duncan inspirierte barfüssig mit ihren lodernden Schals in Berlin und Paris den Jugendstil, die Ausdruckstänzerin Mary Wigman schulte sich ab 1913 beim Tanzlehrer und -theoretiker Rudolf Laban auf dem Monte Verita in Ascona, zu dessen Künstlerkolonie zeitweilig auch Hermann Hesse, Else-Lasker Schüler und Hans Arp gehörten. Sie teilten dort in einer Lebensgemeinschaft die pazifistische Anschauung, die Absage an Besitz und die Lust am neuentdeckten Nudismus. Auch Isadora Duncan weilte dort. Über Isadora Duncan gelangte auch von dieser Strömung her ein Einfluss nach Amerika, wie wir sehen werden.
Wie unterschieden sich die Einflüsse des Ballets Russes und des freien Tanzes?
Die 'Institution' des Ballets Russes und der freie Tanz
Im Ballets Russes waren die Tänzer am klassischen Ballett geschult. Diaghilev, der künstlerischer Berater am Marinskij-Theater in Petersburg war, doch bald in die Ungnade der Aristokratie fiel, warb die begabtesten Tänzer (darunter Nijinskij) samt ihres reformbereiten Choreographen Mikhail Fokine ab. Einer gemeinsamen Tradition verbunden führten sie ihren virtuosen Bühnentanz meist in einem grösseren und aufwendigen Ensemble auf. Dagegen versuchten Isadora Duncan wie auch der deutsche Ausdruckstanz im Allgemeinen, sich in individualistischen und improvisatorischen Solostücken von allen Konventionen zu befreien. Freilich tanzte auch Nijinskij 1912 in Après-midi d'un Faun auf Debussy barfuss und führte eckige und geometrische Figuren ein, doch schon bald nach ihm, er schuf nur zwei Ballette, setzte sich wieder ein neoklassizistischer Stil durch. Die Pioniere des modernen Tanzes hingegen konnten als einzelne Persönlichkeiten ihre individuellen Stile kompromissloser entwickeln. So gründete Isadora Duncan ihr eigenes Tanzinternat in Berlin, um - ihrer anti-kommerziellen Lebensphilosophie entsprechend - kostenlos Schüler auszubilden. Sie fühlte sich frei, Einladungen eines Théâtre de Champs-Elysée auszuschlagen, um sich von jeder Unterhaltungsstätte zu distanzieren. Mary Wigman gründete 1920 eine Schule in Dresden, um drei Jahre darauf mit der eigenen in ihrem Stil herangezogenen Tanzgruppe erste Auftritte zu gestalten. Freiheit und eine eigene Handschrift wollte dieser Tanz sich leisten.
Einheit von Leben und Werk
Während im Ballets Russes, ursprünglich vom russischen Symbolismus herkommend, keine individuelle Lebensanschauung zum Tragen kam, ging es bei Tänzern wie Isadora Duncan und Mary Wigman um die Einheit von Leben und Werk. So emigrierte Isadora Duncan 1922 aus Sympathie mit den sozialen und politischen Zielen der Revolution nach Moskau. (Sie kehrte jedoch zwei Jahre später zurück, da die russische Regierung ihre Projektversprechungen nicht einhalten konnte). Bald darauf führte sie eine Tournee nach Boston, wo sie auf der Bühne einen roten Schal schwenkend unversehens ihre Brüste enthüllte und verkündete: "This is red, and so am I!"
Umgekehrt war Serge Diaghilev mit dem Ausbruch der russischen Revolution nicht mehr zu einer Rückkehr nach Russland zu bewegen, so dass das neue Regime ihn der bourgeoisen Dekadenz einer besonders heimtückischen Variante bezichtigte. Sein Ballets Russes gastierte weiter auf den grossen Bühnen Europas und wurde zum ausverkauften gesellschaftlichen Grossereignis, das Publikum kleidete sich "à l'orientale" mit Turban und schmückte sich mit Federn.
Eine seelen- und stilverwandte Verehrerin Isadora Duncans war die amerikanische Tänzerin Ruth St. Denis. Beide feierten sie um die Jahrhundertwende in den europäischen Metropolen ihre Erfolge. Ruth St. Denis' Einheit von Leben und Werk war gewebt aus filigranen Fäden der Spiritualität. 1906 führte sie eine dreijährige Tournee mit einem hinduistisch inspirierten Tanz nach London und Paris, wo sie von August Rodin gezeichnet wurde, in Berlin und Wien, wo Hugo von Hoffmansthal einen Essay mit dem Titel "die unvergleichliche Tänzerin" über sie schrieb. Ruth St. Denis interessierte sich neben dem Hinduismus auch für die Theosophie in Amerika. Ihr Tanz war früh geprägt von einem Gymnastik-System nach der bewegungspädagogischen Theorie des Franzosen Francois Delsartes. Dieser suchte der unnatürlichen Entwicklung der Technik verschiedener aufführender Künste mit einer "Wissenschaft angewandter Ästhetik" zu begegnen, die nach dem Zusammenhang von Stimme, Atem, Bewegungsdynamiken und natürlichem Körperausdruck verschiedener Emotionen forschte. Auch Isadora Duncan orientierte sich an seinen Lehren. Die Lebenshaltung spiegelte sich in den Techniken wider, die diese Tänzerinnen anwendeten. Das Credo hiess: Hinter jeder physischen Geste birgt sich ein emotionaler oder spiritueller Zustand. Und eben dieses Credo verbürgte die angestrebte Einheit von Leben und Werk.
Beschwerlicher Werdegang des freien Tanzes in Amerika
Isadora Duncan und Ruth St. Denis versuchten beide ihre europäischen Erfolge in ihrer amerikanischen Heimat fruchtbar zu machen. Sie wollten den Tanz zu einer eigenständigen Gattung (es gab zu der Zeit weder Ballettensembles noch Tanzcompanien in Amerika) erheben. Isadora Duncan gab wegen mangelnder Unterstützungsbereitschaft und Geschmacksreife der Amerikaner bald auf. Ruth St. Denis suchte ihre Kunst mit eigenen Mitteln zu sichern und machte kommerzielle - aber auch stilistische - Zugeständnisse: sie rentabilisierte ihre Schule mit Tourneen und Varieté-Einlagen in Hollywood und dessen Filmen.
So bescheiden wie St. Denis und Duncan ihre teils autodidaktischen Anfänge in den Sommerresidenzen einer gutsituierter Mittelklasse vor Mitgliedern u.a. der aufkeimenden Frauenbewegung vorgeführt hatten, so fand eine weitere Vorreiterin des Modern Dance, Irene Tamiris, ihren Weg zum Tanz unter bescheidenen Verhältnissen: inmitten verarmter Arbeitersiedlungen, wo weisse Frauen der Mittelklasse kulturelle Siedlungshäuser gründeten (so in New York City, Chicago und Boston), teils zur Integration und Assimilation der Einwanderer, aber auch zur Wahrung von überlieferten Werten. Denn um diese war es in den 1910er und 20er Jahren nicht zum Besten bestellt. In den Tanzsälen der Städte feierte der populäre turkey trot, der Vorgänger des Foxtrott, zur Ragtime-Musik den Siegeszug (den selbst die Denunziation eines Vatikans nicht aufhalten konnte). In den Cabarets war nun revuehafter Showtanz gefragt, in dem die halb entblössten Tänzerinnen auf anpeitschende Musik ("immer wieder neu 32 mal und 64 mal" beschreibt Irene Tamiris) die Beine schwenkten. Im Kulturhaus ihrer Siedlung dagegen lernte sie, wie "die Bewegung von der Brust aus in Arme und Beine fliesst, ... jede Bewegung von der Körpermitte beginnt". Unter widrigen Umständen wuchs der amerikanische freie Tanz empor. Das Bewusstsein darum prägte ihre Pioniere. So wird Helen Tamiris, ein Zögling der kulturellen Wohlfahrtseinrichtung Neighbourhood Playhouse School mit proletarischem Geist ihre ersten Solos in den späten 20ern über soziale Unterdrückung, z.B. in Negro Spirituals choreographieren. Ihr Manifest war, dass der Tanz aus dem jeweiligen Zeitalter zu entspringen habe.
II. Die Begründung des Modern Dance
Martha Graham entwächst der Denishawn-Schule
Kaum hatte Ruth St. Denis mit ihrem Mann Ted Shawn, einem ehemaligen Theologiestudenten, 1915 in Kalifornien die Denishawn-Tanzschule gegründet, wirkte diese wie ein Magnet: nach wenigen Jahren kamen Martha Graham und Doris Humphrey, die eigentlichen Begründer des Modernen Tanzes, erstere, um hier ihre Tanzausbildung zu vervollkommnen, letztere zum Lehren. Die Besonderheit der Internatsschule war die Ausgewogenheit: Im Park wandelte man barfüssig mit Büchern (aus einer breitangelegten Bibliothek), Diskussionen und (z.B. Nietzsche-) Lesungen waren beliebt, Gastlehrer verschiedener Sparten kamen aus aller Welt. Louis Horst, ein aufgeschlossener amerikanischer Komponist, war für die musikalische Ausbildung verantwortlich, die Tänzer wurden nunmehr mit Eric Satie oder Skriabin eher percussiv denn melodisch begleitet. Martha Graham und Doris Humphrey avancierten bald zu Mitgliedern der Denishawn-Companie. Doch St. Denis' Hang zu einem Potpourri verschiedener Tanzstile und aufwendiger exotischer Ausstattung, mit dem sie nicht nur ein breites Publikum, sondern auch Hollywood gut bediente, befremdete die beiden anspruchsvollen Tänzerinnen zunehmend. 1923 kam es zum Bruch: Graham verliess die Denishawn-Companie Richtung New York, Humphrey kündigte im Jahre 1928.
Minimalistischer Stil
Bei der Entwicklung des eigenen Stils ist Martha Grahams (wie auch Doris Humphreys) sparsamer Umgang mit dem Bühnenbild und Kostümen augenfällig. Die Vermeidung eklektischer Elemente erlaubt eine Kohärenz, nach der es allem Anschein nach sowohl Graham als auch Humphrey dürstet. Dieses Bedürfnis nach Stringenz, das beide treibt, ist die Voraussetzung, einen einheitlichen Stil zu schaffen. Die andere Voraussetzung ist das besondere (ideelle) Fundament ihrer Technik, das tragfähig ist für jeweils ein eigenes ausbaubares System.
Was begünstigt nach einer eklektischen Epoche den Drang nach einem nüchternen kohärenten Stil? Das psychologische Motiv der Übersättigung, Abgrenzung und Abnabelung erklärt nicht die tieferen Beweggründe dieser modernen Künstler. Der Querverweis einer Gattung auf die andere berührt entsprechend nur die Symptomatik: "Wie die modernen Maler und Architekten haben auch wir das Medium von unwesentlicher Dekoration befreit. Genau so wie keine Verzierungen mehr an Gebäuden wahrzunehmen sind, so wird auch das Tanzen nicht weiter ausstaffiert". So äusserte sich Martha Graham in dieser Zeit (1930). Die wahren Beweggründe zur stilistischen Einheit und Kohärenz, die keine kompromittierende Zugeständnisse duldet, sind aber in der politischen und sozialen Auffassung der modernen Künstler zu suchen. Sie suchten zu erforschen und auszudrücken, was die Seele der Leute damals bewegte: soziale und gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Diese absorbierte die Pioniere des Modernen Tanzes, zwang sie zum Engagement, zu eigens entwickelten tänzerischen Stellungnahmen und verlangte Verbindlichkeit. Noch zu Zeiten des "unverschämten" Wohlstands der 20er schuf Martha Graham Solostücke wie Revolt (1927) auf die Musik Arthur Honeggers und Immigrant (1928), das die Ausbeutung der Arbeiterklasse behandelt. Nach der Weltwirtschaftskrise schuf Martha Graham das Solostück Lamentation (1930). Sie sitzt im Stück auf einem schwarzen Hocker in einem schwarzen Raum. Beleuchtet wird nur ihre enges, langes und elastisches Kleid, das wie ein dehnbarer Schlauch übergestülpt wirkt, und sie windet, biegt und krümmt sich darin. Die Bedeutung des modernen Tanzes, so schrieb der von der New York Times im Jahre 1927 eigens erkorene Tanzkritiker, sei dessen Fähigkeit, Emotionen durch strukturierte Form zu vermitteln. Der Modern Dance destilliert den Ausdruck zu klaren und strengen Formen.
Das Interesse an den Naturvölkern
Martha Grahams (formalästhetisches und thematisches) Interesse an afrikanischen und "einheimischen" Amerikanern, den Indianern, speiste sich aus verschiedenen Quellen. Zum einen widmeten sich die Maler, z.B. Picasso 1906/07, Sujets "primitiver" Kulturen. Es gab auch zunehmend ethnologische und anthropologische Studien. In der Musik wurde zu verschwinden drohendes Kulturerbe gesammelt, z.B. die Volkslieder des Balkans durch Béla Bartók. Der Pianist und Komponist Louis Horst, mittlerweile Martha Grahams Mentor, ermunterte diese, sich den "Primitiven" zuzuwenden. Er steuerte zu ihrem Stück Primitive Mysteries (1931) die Musik bei. Dieser "Trend" war die eine Quelle. Zum anderen gewann die afroamerikanische Kultur zusehends an Präsenz. Voyeuristisch labte sich ein weisses Publikum an schwarzen Showtänzerinnen und Musikern, die New Negro- und Harlem Renaissance-Bewegung war Ausdruck des erstarkten Selbstbewusstseins vieler Schwarzer, und nicht aufzuhalten war deren rhythmischer Einfluss in den Tanzsälen. Eine amerikaspezifische sozio-kulturelle Entwicklung bot also die zweite Quelle. Eine unbezwingbare Demarkationslinie bestand aber jenseits der Unterhaltungskultur. Diese Diskrimination zu überwinden war ein Ziel der Begründer des Modernen Tanzes: linke Gesinnung als dritte Quelle also für das Interesse an den Afroamerikanern und Indianern im Tanz. Der Moderne Tanz hatte die Vision einer neuen, pluralistischeren amerikanischen Kultur. Doch die Vision hatte ihre Grenzen: Als 1928 Helen Tamiris Negro Spirituals aufführte, in welchem sie die Unterdrückung der Schwarzen brandmarkte, betrat kein Schwarzer den Tanzboden (wohl aber sangen sie). Begabten dunkelhäutigen Tanzschülerinnen wie Edna Guy blieb der Zugang zu den meisten Tanzschulen verwehrt. In Ruth St. Denis' Denishawn-Schule wurde Guy geduldet. (Sie durfte gar bei Tourneen der Denishawn-Companie teilnehmen, aber nur als Assistentin in Sachen Kostümpflege etwa). Um später ausserhalb des Variété-Genres zur Geltung zu kommen, musste sie ihre eigene Companie gründen. In Harlem entstand auf dieser sozialen Schieflage bald die erste schwarze Tanzschule (1932). Aus diesen drei Quellen speiste sich die tatkräftige Erkenntnis der modernen Tänzer: die schwarze und einheimische Kultur kann ihren Beitrag zur Kunst und nicht nur zur Unterhaltung liefern.
Während Tamiris' und Grahams Interesse an den Naturvölkern politisch und ästhetisch motiviert waren, trieb viele Schwarze ein existentielleres Interesse: die Suche nach der eigenen Identität. Wenn Graham ihrem Interesse nachging, indem sie die Pyramiden der mexikanischen Inkas bestieg und deren rituelle und spiritualistische Sogwirkung zu verspüren meinte - ein Foto zeigt sie windumweht auf der Pyramidenspitze 1933 in Youcatan -, pilgerten Schwarze wie die Tänzerin Asadata Dafora 1935 im Rahmen anthropologischer Studien, als Feldarbeit einer vergleichenden Studie für die Northwestern University, zu ihren Vorfahren in die Karibik oder nach Afrika. Dort von den Einheimischen willkommen empfangen, studierte sie die tradierten Tänze und trachtete in der Verwertung ihres Materials nach Authentizität. Graham dagegen suchte in all diesen primitiven Kulturen eine universale Formsprache. Das Ergebnis beider Annäherungsweisen, Grahams und Daforas z.B., an das Primitive könnte unterschiedlicher nicht sein: Graham kreierte eine karge Mystik primitiver Formen oder grausamer Riten, Dafora schuf bewegliche und bunte Genrebilder eines karibischen Marktlebens oder authentische Tänze im Dschungel (z.B. in L'Ag'Ya aus dem Jahre 1938). Schwingende Hüften und stampfende halbnackte Schwarze waren in solchen Stücken willkommene Nahrung für die bestehenden Vorurteile über das Animalische und Sexuelle der Schwarzen. Die Kritiker verstanden nicht, dass diese Schritte nur einige, aber notwendige, in der ästhetischen Emanzipationsbewegung ausmachten. Martha Graham liess Primitive Mysteries noch weitere Tanzstücke dieser Art folgen: Primitve Canticles (1931), Ekstasis (1933), FreneticRrythms (1934), El penitente (1940).
Spannend ist vor diesem Hintergrund ein Bericht eines Zeitzeugen, der Martha Grahams Aufführung mit der des Ballets Russes wie folgt verglich : "Ich ging Graham anzuschauen in der Erwartung, noch schockierter zu werden als durch die Zusammenarbeit eines Picasso, Cocteau und Massine. Ich war nicht vorbereitet auf ihre Simplizität und war unfähig ihren authentisch primitiven Ausdruck wahrzunehmen. Für mich war 'primitiv' gleichbedeutend mit dem Primitivismus des Strawinsky eines Sacre und les Noces, mit seiner ganzen Palette an komplexen Farben, erlesenen Orchestration und historischen Bezugnahmen. Das Archaische war für mich der Archaismus eines Aprèsmidi d'un Faun, das Zeitgenössische war der Schick eines Parade oder les Biches. Diese einsame Tänzerin, die nicht einmal jung war, mit ihrer Truppe spartanischer Mädchen, die alle der stählernen Frau, die sie war, zu ähneln suchten, erschien mir naiv oder prätentiös, ich konnte es nicht entscheiden. Aber die Macht der Persönlichkeit dieser Frau faszinierte mich vom ersten Augenblick."
Americana
Die Bestimmung der Identität der jungen Nation wurde zum vorrangigen Thema im Amerika der späten 30er Jahre, da es sich einer bedrohlichen faschistischen Entwicklung in Europa gegenüber sah. In Frage gestellt werden musste der Isolationismus, gestärkt werden mussten die positiven Werte, die die Demokratie ausmachten. In diesem Rahmen muss die Suche nach dem spezifisch "Amerikanischem" verstanden werden. Wenn der Musiker Louis Horst Charakteristika herausstreicht, die sowohl im Tanz als auch in der Musik eines Aaron Coplands z.B. Ausdruck finden, reihen sie sich nur scheinbar in die Rassen-Charakterstudien der Faschisten. ("Der Amerikaner vom Land hat sogar besondere körperliche Merkmale: Mädchen mit langen Beinen, Abenteurer, Persönlichkeiten mit langsamen Gesten"). Dennoch befällt einen bei der Betrachtung der Tänze wie Appalachian Spring (1944, Musik: Aaron Copland) ein ungutes Gefühl: wenn die Künste sich affirmativ verstehen, wo bleibt da das Spannende, Aufrührende, Vieldeutige? Ein Stück, das den optimistischen Geist der landgewinnenden Siedler im Zuge gen Westen mit dem Segen des Priesters versieht, ist kein vielschichtiges oder "tiefes" Werk. Dennoch, bei den Amerikanern ist es beliebt, sie können sich wohl in den weitausholenden Sprüngen des Siedlers im Land der unendlichen Möglichkeiten und dem Blick in die Ferne wiedererkennen. Man hat den Eindruck, dass alle Choreographen der Zeit, insbesondere während des Krieges sich mit dieser Identitätsfrage beschäftigten. Graham begann mit American Document (1938), Billy the Kid von Eugène Loring zur Musik Coplands (1938), Rodeo von de Mill (1942) u.a. folgten. Die mutigen Stellungnahmen der Pioniere des Modernen Tanzes fügen aber das Genre der Americana erst zum Gesamtbild: So schlägt z.B. Martha Graham 1936 eine Einladung zu den Olympischen Spielen in Berlin aus und gibt dazu eine Erklärung ab. Sie verurteilt darin offen die Verfolgung deutscher Künstler durch die Nationalsozialisten.
Nach dem Tod Diaghilevs und dem Zerfall des Ballets Russes wurden deren Choreographen und Tänzer von den verschiedensten königlichen Theaterhäusern angeworben. In Amerika erhielt das Metropolitan Operahouse eine eigenständige Tanzsparte und der letzte leitende Choreograph des Ballets Russes, George Balanchine, wurde samt dessen Neoklassizismus angeheuert. Im besagten Jahr der Uraufführung des Appalachian Spring (1944) schuf Jerome Robbins für dieses neue American Ballet das Stück Fancy Free, ganz in Western-Manier. Es war stilistisch eine Mischung. Jerome Robbins erweiterte den (neo-)klassischen Ballettanz um Elemente aus dem Modernen Tanz, dem Steptanz und dem synkopenreichen Jazztanz - inspiriert von den Bars in Harlem - zu Leonard Bernsteins Musik. Was noch 10 Jahre zuvor als frivol galt, war nun bühnenreif und Ausdruck "unseres einzigartigen nationalen Markenzeichens der Jugendlichkeit, Munterkeit und Humors", schrieb ausgerechnet die eher linksorientierte Zeitschrift New Masses. Die Verehrer des klassischen Balletts feierten dessen Verjüngung, die Verehrer des Modernen Tanzes befürchteten die Einverleibung durch den "kannibalistischen" Appetit des Balletts. Die Americana wird zum Melting-Pot nicht nur sozio-kultureller Unterschiede, sondern auch ästhetischer Stile.
Griechischer Zyklus
Nach der Americana folgt Martha Grahams griechischer Zyklus, in dem sie griechische Sagen, Dramen und Helden verarbeitete. Nach eigenem Bekunden ging es Martha Graham immer darum, etwas universell Gültiges aus den griechischen Mythen aufzuzeigen. So etwa wird bei The Cave of Heart (1946) das Schicksal Medeas als latente Möglichkeit, die in jeder Frau schlummert, als tiefenpsychologische Wahrheit verstanden. Ein Höhepunkt ist wohl der abendfüllende Tanz Clytemnestra (1958), das die Orestie in Zügen nachzeichnet. In ihrem griechischen Zyklus zeigt Martha Graham ihre choreographische und stilistische Reife. Mit den abendfüllenden und dramatischen Werken erweist sich der Moderne Tanz als mündige Alternative zum Ballett laut einem renommierten Tanzkritiker oder schlicht als dessen gültige Ablösung.
Graham-Technik und -System
In Anbetracht der stilistischen und technischen Einflüsse, die Martha Graham über Ruth St. Denis aufgenommen hat, nimmt es nicht Wunder, dass Atem und natürlicher Bewegungsfluss dem Ausdruck von Emotionen zugrundegelegt werden. Sie rekuriert nicht auf eine virtuose Technik als Instrumentarium, welches das klassische Ballett zur Verfügung hat. Wir erinnern uns an die Simplizität, von der ein überraschter Betrachter berichtete. Die Technik, die heute als Graham-Technik bekannt ist, hat sich systematisch, wenn auch nicht planmässig entwickelt. Sie ist auf ein derartiges Niveau gehoben worden, dass sie nahezu als äquivalent zur klassischen Ballettausbildung gelten kann. Wie ist das möglich? Es ist ganz und gar nicht so, dass jedweder Stil aus der Zeit potentiell ähnlich ausbaufähig gewesen wäre. Wesentlich ist eine tragfähige Idee. Und diese war in der genialen Erfindung der Entgegensetzungen des Contraction und Release gegeben. Contraction und Release betreffen beide wie das Aus- und Einatmen das Körperzentrum. Sie basieren auf dem Aus- und Einatmen und verwenden sie als Initiator von Bewegung. Das Ausatmen getrieben bis zum äussersten Ende ist eine Krümmung, das Einatmen deren Auflösung. Diese gegenläufigen Bewegungen bilden den Kern Martha Grahams Technik und durchziehen den Tanz wie Ebbe und Flut den Meeresgang. Genauer betrachtet: Contraction ist ein Zusammenziehen der Muskeln im Beckenbereich, Bauch und Oberkörper zu einer konvexen Krümmung, wie sie beim starken Husten oder Lachen entseht. Diesem Zusammenziehen steht, wenn man die Bewegung umkehrt, die Loslösung des "Verkrampfens" und zunehmende Entspannung bis hin zur Ausgangsposition gegenüber. Dieser "gespiegelte Bewegungsablauf" lässt sich aneinanderreihen und wiederholen. Insofern er im Körperzentrum stattfindet, kann man sich leicht vorstellen, wie er die Extremitäten involvieren kann: der Kopf wird beim konvulsivischen Endpunkt nach unten mitgezogen, die Arme rotieren leicht nach innen, die Knie geben nach. Umgekehrt ist leicht nachvollziehbar, dass bei der "Gegenbewegung", dem Release, die Bewegung nicht nur bis zur neutralen Ausgangsstellung, dem Stand, zurückgeführt wird, sondern darüberhinaus in eine Überdehnung geleitet werden kann. Das Brustbein hebt sich leicht in die Diagonale nach vorne. Hierbei wären die Extremitäten im umgekehrten Verhältnis involviert: die Arme kommen in ihre hängende Ausgangsstellung zurück und mit dem Heben des Brustbeins rotieren sie gar leicht nach aussen. Der Kopf richtet sich wieder auf und hebt sich gar leicht mit dem Brustbein. Die Beine erlangen wieder ihre usprüngliche Gestrecktheit; es wäre sogar eine aktivere Streckung, gar in Erhebung auf die Zehenspitzen denkbar: eine konsequente Erweiterung des Release. Die Ausbaubarkeit dieser "Gegenbewegungen" ist nun gegeben, in dem man sie nicht nur rück-und-vor ausrichtet, sondern etwas diagonal. Oder indem man sie leicht dreht, "twisted", ähnlich einer Spirale. Wenn man hinzunimmt, dass von nahezu jeder Ausgangsposition diese Contractions erfolgen können und egal in welcher Höhe, d.h. ob im Sprung, Stand, auf den Knieen oder am Boden, ahnt man die Mannigfaltigkeit, die Kombinationsmöglichkeit dieser Technik. Indem die Ausgangsposition ungeschadet auch eine klassische Ballettposition sein kann, ist klar: sie ist variierbar wie der klassische Tanz (ausgenommen dessen virtuose Entfaltung der äussersten Extremitäten: im Spitzentanz oder in den battus, dem Zusammenschlagen der Füsse). Die konvulsivische Position findet dagegen oft eckig angewinkelt ihren Endpunkt. Gerade diese Sprödheit und Hässlichkeit, die im Anschluss auflösbar ist, bietet ein grosses Potential für die Ansprüche der Moderne. Wichtig ist: der Ablauf der Positionen unterliegt dem beschriebenen Gesetz der Abfolge, die Positionen können nicht wie Bausteine (des klassischen Ballettrepertoires z.B.) beliebig aneinandergereiht werden. Diese Logik des so konzipierten Bewegungsflusses - mit dem Impuls aus dem Körperinneren - ist in meinen Augen, was die Graham-Technik so zwingend erscheinen lässt und zu einem einheitlichen Stil auswachsen lässt. Wir ahnen nun, warum sie die Eklektik einer Ruth St. Denis, die Improvisation einer Isadora Duncan einerseits und das Ballett andererseits stilistisch übertrifft. Letzteres übertrifft es, insofern Stil nicht mehr nur gefällig sein muss und Technik die Virtuosität bedient. Die Technik Martha Grahams entsprang einem zeitgemässen Stil und bediente nur diesen.