“Komm mir nie wieder unter die Augen! Und ich mein es so!” Ted Shawn rannte in den 20ern seiner Protegée Martha Graham hinterher, zum Taxi, und schmetterte dessen Tür so zu, dass die Scheibe zerbrach. So heisst es in einer Biographie Grahams aus den 50ern.
Gleichzeitig versuchte auch die zweite Protegierte der Denishawn (Ruth St. Denis’ & Ted Shawns Schule und Companie), Doris Humphrey, sich vom künstlerischen Ziehvater zu lösen. Nur: bloss kein Scherbenhaufen! Auch sie hatte das selbe Motiv, Denishawn machte zuviele künstlerische Zugeständnisse an Hollywood und Broadway. Ein schwer verdaubarer Vorwurf für einen ehemaligen Pionier wie Ted Shawn.
Doris Humphrey gründete 1922 ihre eigene Companie, ohne sich ihren Lehr-, Assistenz- und Solo-Verpflichtungen bei Denishawn zu entziehen. Jahrelang rang sie um bessere künstlerische Bedingungen, um loyal bleiben zu können. Statt einer künstlerischen Diktatur wünschte Doris einen demokratisch funktionierenden Leitenden Rat. Dieser wurde 1928 schliesslich berufen. Nur ohne sie.
Mündige Gemeinschaft und künstlerische Exzellenz
In ihrer eigenen Companie, der Humphrey-Weidman group, konnte sie ihr doppeltes Ideal verwirklichen: eine reife Künstlergemeinschaft mit Mitspracherecht einerseits, künstlerische Excellenz andererseits. Ihre Freundin und Gefährtin war Pianistin und Managerin, Charles Weidman war Solist und Choreograph, José Limón stiess 1931als Tänzer dazu. Sie bildeten eine Art Kibbuz und betrachteten sich als eine Familie, die bis zu 7 Mitglieder zählte. Einer stand für den andern ein, übernahm dessen Lehrstunden in Ausfallzeiten oder unterzog sich solidarisch dessen Heildiäten. Aus dem Lohn von Broadway-Shows erwarb Charles eine Farm, in der die Companie ihren Urlaub verbrachte. Die Beziehungen untereinander waren wohl vielfältiger Natur. Diese ward erst überschaubarer, als Doris sich an einen englischen Seemann, genauer Marineoffizier, band. (Das Betätigungsfeld der “Kibbuz”-Familie erstreckte sich bald auch auf das Babysitting). Noch überschaubarer ward sie Jahre später, als José Charles und die Companie verliess: Die Pianistin managte es, sich mit José Limón zu vermählen und ihn für die Companie wiederzugewinnen.
Stand die Gruppe über dem Individuum? Eine soziale Frage
Welchen Stellenwert ein Individuum in solch einer Gruppe hat, fand Doris entscheidend. Eine funktionierende Gemeinschaft um ihrer selbst willen fand sie unbefriedigend. So verwarf sie bevormundende Ansprüche auf die Loyalität ihrer Mitglieder. Doris war sich des Widerspruchs in ihrer Forderung bewusst, wenn sie von den Künstlern und Tänzern verlangte, wahrhaft zu sich kreativ zu sein und gleichzeitig die Gruppe zu spüren. Das Ziel waren mündige Tänzer. Sie förderte die schöpferische Fähigkeit jedes Einzelnen, auch wenn anschliessend Mitglieder der Companie sich selbständig machten. Individuum versus Gruppe und Masse war ein brennendes Thema seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als die zunehmende Industrialisierung und Vermassung der Städte dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung jedes Einzelnen gegenüberstand. Die soziale Ungerechtigkeit verschärfte sich zur Zeit der grossen Depression, die Klasse der Arbeiter organisierte sich, und der Moderne Tanz blieb davon nicht unberührt. José erinnert sich an heiss geführte Diskussionen des Jahres 1936. Er habe Doris und Charles aufgefordert, ihr Talent in die Dienste der nahe bevorstehenden und unausweichlichen Revolution zu stellen. Doch sie wiegelte anscheinend ab, ihre “Werke sind in erster Linie die der Kunst (…) und mögen sich keiner Herrschaft, welcher couleur auch immer, unterordnen.”
Im Gegensatz zu Martha Graham, die ihre Besorgnis um die Gesellschaft mit dem Solostück “Lamentation” (1928) kundtat, stürzte sich Doris mit Überzeugung und viel Genugtuung in die Gruppenarbeit. Das sehr formale Stück, wenn auch mit dem konkreten Titel “Water Study” (1928), probiert aus, wie die Energie und Bewegungsphrase Einzelner in eine Gesamtbewegung der Gruppe nach und nach eingespeist werden kann, was eine neue Dynamik generiert. In “Water Study” kommen einige Tänzer von einer Bühnenseite wie Vorreiter einer anschwellenden Woge herein. Sie werden ab Bühnenmitte unter der nachrückenden “Wasser”oberfläche (wohl unter den Füssen der Nachhut) wieder zurückgesogen (und gezogen). Um mit einem Atemholen von Neuem anzusetzen. Die Wiederholung bringt den flauen und stetigen Wellengang. Auf diesen kommt von der gegenüberliegenden Bühnenseite ein ähnlich an- und abschwellender Wellengang zu. Die Steigerung auf beiden Seiten in je eine sich aufbäumende Woge kommt zustande, wenn die rhythmisch und räumlich verstreuten Bewegungsimpulse sich in der Bühnenmitte, der Spiegelachse, verdichten, die Tänzer einzeln nicht mehr auszumachen sind. Die bereits an dieser Achse befindlichen Tänzer verzögern ihre Phrase, die hinzustossenden holen auf, sodass sie schliesslich unisono über-mannshoch in einem Sprung emporschnellen. Zwei Wellen, die aneinander brechen. Wenn man bedenkt, dass nur das geräuschvolle Einatmen und das Aushauchen die Impulse liefern und die Phrasen begleiten (es gibt keine Musik), wird verständlich, welche Empfindlichkeit jeder Einzelne entwickeln musste, um den anderen und dessen Dynamik wahrzunehmen, in die er seine eigene einbringen musste. Es gab Tänzer, die diese Erfahrung so bereichernd fanden, dass sie dieses kurze Stück zu ihrer bevorzugten Choreographie erklärten. In anderen Stücken thematisiert Doris Humphrey das Verhältnis Individuum-Masse. Hier bildet es nur die Struktur und den formalen Aspekt. Das Stück ist nicht konkret ein Produkt der beiden Ideale Demokratie und schöpferische Qualität. Es liefert nicht den Beweis für die Vereinbarkeit beider im Schaffensprozess. Nicht im engen Sinne. Die über die selbstbestimmte Arbeitsgemeinschaft erreichte Qualität des Stückes, welche wiederum den Einzelnen bereichert, war indes ein Konzept, das aufging. Es bildet zudem ihre choreographische Handschrift. Und welche Handschrift ist für den Betrachter spannender zu entziffern: eine, deren Tänzer eine komplexe Woge erwirken oder eine, deren Tänzer synchron den Schritt des Vorder- und Nebenmanns in den Raum duplizieren?
Weichenstellung für den Modernen Tanz
Mündig sollten nicht nur die Tänzer, sondern auch das Publikum werden. Zu Beginn interessierten sich nur skurrile Figuren und linke Intellektuelle New Yorks für den Modernen Tanz. Sollte eine breite Bevölkerung mit ihm bekannt werden, musste der Tanz auf Tournee. Das amerikanische Theatersystem hat ohne Unterstützung der öffentlichen Hand auszukommen. Tourneen sind daher kostspielig und gehen auf eigenes Risiko. Dennoch forcierte Doris solche monatelangen Tourneen. Als Aufführungsort war der Campus beliebt - in Amerika sind Bühnen oft in Siedlungen auf dem Hochschulgelände zu finden -, wo bereitwillige Studenten beim Auf- und Abbau den Tänzern, der “Familie”, zur Hand waren. Um den neuen Tanz vor Ort den Leuten schmackhaft zu machen, lieferte Doris einem Campus zu der Vorstellung eine Einführung nebst getanzten Werkauszügen gleich mit. Theoretische Hintergründe erörterten die Pioniere des Modernen Tanzes in einer öffentlichen Vorlesungsreihe, die der Tanzkritiker der New York Times organisierte. Da ging es aber nicht immer nur beschaulich zu. Solche Orte verkamen schnell zum Schauplatz des Kampfes zwischen Klassik und Moderne. Michael Fokine, der erste Choreograph des berühmten Ballets Russes, war immer dabei. Er setzte mit höhnischen Zwischenrufen dem Vortrag Mary Wigmans, einer emigrierten deutschen Ausdruckstänzerin, zu. Als Martha Graham an die Reihe kam vorzutragen, und er sich derart hervortat, trat sie dicht an ihn heran und sprach laut und hörbar: “Sie sind nicht gekommen, um zu verstehen oder wenigstens zuzuschauen, sondern sich zu belustigen. Ich wünschte, Sie gingen. Gehen Sie!” Und sie wartete, bis er ging. Die (ästhetische) Erziehung verbreitete sich aber auch über die Lehre. Von der ersten Stunde an unterrichteten die Begründer des neuen Tanzes an unterschiedlichsten Plätzen und nicht selten, aus finanzieller Not, auch Laien. Mit der Zeit aber kamen Tanzlehrer aus der Provinz und auch Tänzer der sich mehrenden Companien. Doris konnte nun Kurse für Fortgeschrittene anbieten. Hier analysierte sie Ausschnitte ihrer Tänze und unterwies die Teilnehmer in Choreographie. Doris’ reflektierte Art wurde legendär. Die bei diesen Kursen gesammelte Erfahrung war der Grundstein für das Buch “Die Kunst, Tänze zu machen” (1959). Es ist durchzogen vom aufklärerischen Geist, der unbedingt dieses (ach so verworrene!) Sujet verständlich machen will. Das Buch ist anschaulich gestaltet mit beigelieferten Zeichnungen und Übungsaufgaben und zugleich analytisch, die damals etablierte Gestalttheorie wie auch Wahrnehmungspsychologie sich zunutzemachend. Gewollt oder ungewollt, der Einsatz Doris Humphreys in Theorie und Praxis diente letztlich der Verbreitung und Verbesserung des Modernen Tanzes.
José Limón
José hatte ein bewegtes und dramatisches Leben. Er war das erste von 12 Kindern eines Musikdirektors und erlebte mit sieben die blutige Revolution in Mexiko. Sein Onkel wurde in Anwesenheit der Familie vor seinen Augen erschossen. Nachdem der Vater eingezogen wurde und jahrelang in der Armee diente, entschloss er zu emigrieren. Während der Zugfahrt nach Los Angeles wurde der junge José Zeuge einer Exekution, sein Geschwisterchen fieberte auf der Reise und starb bald darauf. Er war 18 Jahre, nur die Hälfte der Geschwister war noch am Leben, als in Los Angeles seine Mutter in Folge einer Schwangerschaft verschied. Dem Vater sagte er: “Warum weinst Du? Du hast sie getötet, und Gott liess es zu.” Er lastete den Tod seinem Vater und der kirchlichen Doktrin an und verliess die Familie. Er studierte Malerei und folgte seinen Boheme-Freunden. Als er den vielleicht beeindruckendsten Ausdruckstänzer der Zeit zu Gesicht bekam, fühlte er sich zu neuem Leben erweckt. Er begann ohne zu zögern bei Charles Weidmann, einem Mitglied der besagten Künstlergemeinschaft, und Doris Humphrey zu studieren. Bald wurde er von ihr aufgenommen. Sein gewinnender Charme und überaus männliches Auftreten blieben bei Aufführungen nicht unbemerkt. Er hatte sicher einen grossen Anteil am allgemeinen Erfolg. 10 Jahre währte die Lebensgemeinschaft, unterbrochen nur vom Wehrdienst, dann suchte Limón nach einer anderen Zusammenarbeit. Mit vielversprechenden Choreographien wandte er sich an Doris, die ein 2 ½ stündiges Stück über seine Heimat, Indios, Conquistadores und Revolucionarios auf eine halbe Stunde kürzte. Gestrafft erhielt es grossen Zuspruch. Die Presse rühmte im Namen von Intellektuellen und Nicht-Tänzern, dass “echte Männer” “echte Männerthemen” im Tanz behandeln. Meist zeugten seine Themen von sozialpolitischem Engagement, die Würde des Menschen hochhaltend und Missstände anprangernd. Als später, zur Zeit der verspielteren Postmoderne, einmal ein Companiemitglied fragte: “Warum noch sich für Werte abmühen, ich meine, kümmert es die Leute überhaupt noch?” - da sammelte er sich, riss all seine Kräfte zusammen und antwortete: “Solange einer wie Nixon im Weissen Haus sitzt, solange bedarf es jeder Faser unseres Engagements”. Hatte nicht der ehemalige Limón-Solist und Gastchoreograph in Bern, Doug Varone, vorigen Monat im Interview auf den aktuellen Präsidenten verwiesen? Auf die Frage nach der Wiederentdeckung von Limón antwortete er: “So wie das Land die letzten 10 Jahre regiert wurde, entstand ein gemeinsames Anliegen: Die Choreographen wollen wieder etwas Bedeutungsvolles sagen, von einem sehr menschlichen Blickwinkel aus.”
Zurück zu den 40ern. Über Jahre hielt das damals unübliche Betreuungsverhältnis zwischen José und Doris vor. Dann institutionalisierte sich diese Beziehung, Limón gründete 1945 seine Companie und Doris wurde künstlerischer Direktor. War sie ein kaltes Superhirn, das ihre Tänzer manipulierte?, fragten manche. Wahr ist, dass Limón künstlerisch reifer wurde und Auszeichnungen in Amerika sowie Anerkennungen auf seiner Europa-Tournee ohne viel Verweis auf Doris entgegennahm. Doris zog sich daraufhin zurück. Mit der Zeit wurde sie zunehmend gebrechlich. Als sie an Krebs erkrankte, und José es erfuhr, war er innerhalb einer Woche zur Stelle. Und zwar samt Ehefrau in einer Wohnung nebenan. Doris empfing seine täglichen Besuche mit der alten Natürlichkeit. Am Tag ihres Todes notierte er bewundernd in sein Tagebuch: “Starke Leute fragen nie nach Liebe, sondern geben sie.”
Limòn-Technik
Die Limón-Technik wird wie die Graham-Technik heute noch an den berühmtesten der traditionsreichen Tanzschulen gelehrt: an der Juillard-School in New York, an der Folkwang-Schule in Essen, an der Rotterdamer Tanzakademie, an der Rambert-School in London. Was findet man in der Technik wieder, so wie sie sich heute präsentiert? Ohne Zweifel hat Limón über die jahrzehntelange Führung seiner Companie seinen kraftvoll-virilen Stil weitergegeben. “Nicht genug”, klagt Doug Varone. In der Limón-Technik findet man heute ganze Phrasen und Abläufe aus Doris Humphreys Choreographien wieder, die ihre fleissigen Tänzerinnen sorgfältig zu Blatt gebracht und veröffentlicht hatten. Ganz klar, das Prinzip des Fallens und Rückfederns ist tragend: Wenn der Ruhepol eines ausbalancierten Körpers, der aufrechte Stand etwa, bewegungstechnisch ein Tod genannt werden kann, so ist das Darniederliegen nach einem Fall ein ebensolcher. Doris machte aus dem Hin-und-Her dazwischen ein Bewegungsprinzip. Sie schwang sich oft in hohem Bogen aus dem balancierten Stand in einen Fall und sammelte aus der Landung wie ein Ball die Enegie zum Rückfedern. Mit dieser Energie schnellte sie wieder in die Ausgangsstellung zurück. Analog zum Leben nannte sie das den “Bogen zwischen zwei Toden”. So kam es, dass ein Solist Limóns (Lucas Hoving) nach vielen Jahren einen Tanz mit einer ehemaligen Doris Humphrey-Tänzerin machte und ausrufen konnte: “Ach was! Diese drops und rebounds sehe ich zum ersten Mal!” und später, nämlich als Direktor der Rotterdamer Akademie: “Ich erarbeite sie in meinem Unterricht, weil ich es damals sah. (…) Mit José spürte ich nie, dass es ein absolutes Pinzip war wie Grahams contractions.”