Wenn dieses Jahr der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui Shaolin-Mönche direkt aus dem chinesischen Kloster im Stück Sutra uns auf die Bühne stellt, dann ist das zeitgenössischer Tanz. Wenn andernorts Breakdance mit indischem Tanz konfrontiert wird, wie die Companie Accrorap in Corps Etrangers, erleben wir ebenfalls pulsierenden zeitgenössischen Tanz. Sind dem Tanz von heute die Ideen ausgegangen und bedarf es externer Inspiration? Reiht sich das Phänomen Stil-Mix in die westliche Tradition mit exotischer Ornamentik ein oder ist es Ausdruck eklektischer Postmoderne?
Der Multi-Kulti-Stilmix ist kein neuer Trend, er hat viele Vorläufer in der Geschichte und sagt dennoch in seiner Impertinenz etwas Spezifisches über unsere Zeit. Schon die Schaolin-Mönche sind eine Ausprägung grenzüberschreitender Einflüsse: Im Zuge einer Verbreitung des Buddhismus von Japan aus nach China, vermischte sich die friedfertige Lebensanschauung im 6. Jhd. in Shaolin mit dem dort praktizierten chinesischen Kampfsport. Wo Missionierung, Handelsverkehr oder Völkerwanderung Menschengruppen bewegte, dort hinterliessen sie auch kulturelle Spuren.
Mix zwischen dominanter Kultur und Volkskultur
Eine Volksgruppe mag den Tanz nun so verfeinern und als repräsentativ erachten wie die Aristokratie es am französischen Hof tat. Sie mag sich zudem noch eine professionelle Truppe leisten, die ihr höfisches Theater bedient. Dann ist der Weg frei für einen Stilmix einer besonderen Art: die dominante Kultur (das Ballett) bereichert sich bewusst mit exotischen Figuren und Stilen der Volkskunst. Die Turquerie /1/ im 17. Jhd und der spanische Tanz im 19. Jhd sind dafür Beispiele. Seit dem Vordringenden des osmanischen Reiches, bald bis an die Tore Wiens, stiess der Orientalismus auf zunehmendes Interesse. So durfte 1596 eine Troupe armée des Turcs im Schloss aufziehen und die Schaulust des Hofes befriedigen. Orientalismus-Lehrstühle wurden geschaffen, Enzyklopädien, Theaterstücke (von Molière und Lully) mit Musik und Tanzeinlagen. Dem doppelten Reiz des Fremden, dem bedrohlichen und verführerischen, konnte so genüge getan werden. Im kunstvoll inszenierten Einsatz von Tanz spielt Exotik gewollt oder ungewollt auch eine politische Rolle. Am Hof von Louis XIV eine eindeutig selbstherrliche. In Molières Stück wurden die türkischen Zeremonien so verzerrt, dass sie die Muslime geradezu denunzierten. Die ‘türkischen’ Passagen hatten musikalisch und wohl auch tänzerisch kaum spezifische Charakteristika, Authentizität war kein Anliegen. Aneinandergereihte Drehungen und heftiges Gestikulieren in bunter Tracht reichten für die Zwecke aus. Der höfische Tanzmeister Noverre verteidigte sich einmal: dem Publikum seien ursprüngliche Volksweisen nicht zuzumuten. Es verlange alles “mit Eleganz und Geschmack” zubereitet /2/. Die Aufklärung löste das Gesellschaftsaffirmative mit der Gesellschaftskritik ab. 1758 führte die Ballett-Pantomime Le Turque généreux auf Anordnung der Kaiserin Maria-Teresas den Edelmut orientalischer Herrscher vor, welche vom türkischen Botschafter auch wohlwollend honoriert wurde. Die ‘türkische’ Musik, vielleicht auch durch die geographische Nähe des Wiener Hofes, war schon spezifischer, so wohl auch der Tanz. In der Romantik gewann man schliesslich einen Blick fürs Detail. Denn nun erwachte das Interesse an der Volkskultur schlechthin (Märchensammlungen, Lieder etc.). In dieser Zeit wurde der Charaktertanz als eigenes Fach in das Ballett und die Ausbildung integriert und nahm stattlichen Raum in den grossen Handlungsballetten (von Marius Petipa) ein.
Allmählich gestanden auch in Frankreich tonangebende Tanzkritiker wie Théop
hile Gautier den Vorzug des Authentischen (einer Lola Montèz spanischer Herkunft) gegenüber der virtuosen Aneignung fremder Stile durch die Profitänzerinnen wie Fanny Elssler oder Taglioni ein /3/. Zuvor hatte er Lola noch mangelnder Technik wegen zerrissen. Nun fragt er seine Leser, von der Lebhaftigkeit und Leidenschaft Lolas befangen: “ist Tanzen eine solch ernste Kunst, dass sie keine Innovation oder Kaprizen zulässt? Ist es wirklich notwendig an unbeugsamen Regeln festzuhalten?“ /4/.
Eine zunehmend ethnologische Auseinandersetzung von Künstlern begann aber erst gegen die Jahrhundertwende. Maler wie Gauguin widmeten sich dem Primitivismus, studierten Farb- und Lichtverhältnisse in tropischen Ländern, Musiker wie Béla Bartók betrieben Feldarbeit vor Ort und zeichneten die vielfältige Volksmusik des Balkans auf Tonträger auf. Während dieser erste Musikethnologe bereits seine Entdeckung kundtat, wonach die ungarische Musik wie Liszts Rhapsodia hungarica eigentlich auf Zigeunerweisen fussen, die magyarischen Bauernmelodien dagegen oft den Pentaton nutzen (ein Erbe aus dem Orient), sind Tanzethnologen und ihre Ergebnisse noch nicht so präsent.
Wachsende Authentizität
Wir wissen, welche Macht orientalisch oder griechisch anmutende Stile über Tänzerinnen im Jugendstil ausübten. Doch weder Ruth St. Denis, noch Isadora Duncan nutzten die in der Ethnologie aufkommende Forschungsmethode der “teilnehmenden Beobachtung” für etwaige Studien vor Ort. Sie reisten zwar viel auf Tourneen, nicht aber zu Studienzwecken. Studienreisen unternahm dagegen eine bereits versierte Tänzerin der nächsten Generation: Ruth Page. Sie notierte ihre Beobachtungen im Buch: Page by Page. Dancing around the World 1915-1980 und lieferte als eine Art Auslandskorrespondentin regelmässig Berichte an den berühmten Tanzkritiker John Martin, von der New York Times /5/. Im Abschnitt “ethnische Tänze” empfiehlt sie den Tänzern: geh’ und “shop around” (mach’ Einkäufe)! Profitiere von Tanzlehrern in aller Welt, um die Spannbreite der Ausdrucksfähigkeit, die der Mensch besitzt, kennenzulernen und die eigene künstlerische Empfindlichkeit zu verfeinern. Sie rühmte sich, Zeuge von Zigeunern in Granada gewesen zu sein, “die auf der harten Erde ihrer primitiven Keller Feuer und Leidenschaft sich aus dem Leib tanzten, noch bevor sie auf Bühnenbrettern touristische Attraktionen wurden”. Ausgerüstet mit dem gesunden amerikanischen Selbstbewusstsein und der vielversprechenden ‘Melting-Pot’-Ideologie, einverleibte si
e sich japanischen, indischen, balinesischen Tanz jeweils von Meistern. Zum paradiesischen, “orchideenhaften" Bali meinte sie: “Für mich ist ihre Wirklichkeit nur der äussere Ausdruck meiner Träume”. Das hinderte sie nicht, genau hinzuschauen. Die akribische Beobachtung der Haartracht und Kostüme diente, nebst Schritt und Ausdruck, wie nach dem Erwerb von auserwählten Rohstoffen zur Weiterverarbeitung (‘Veredelung’ war wohl nicht mehr möglich). Ruth Page bot das Endprodukt an New Yorker Theatern feil: “Two Balinese Rhapsodies”. Der Mehrwert klimperte in ihrer Tasche. Ihre Erfahrungen bereicherten auch den im amerikanischen Tanz der 30er sich abzeichnenden ‘Primitivismus’-Stil. Dann avancierte sie zur Tanzdirektorin der Chicago-Oper. Dort gelang Ruth Page, ganz im Bann der New Harlem Renaissance Bewegung und ihrem stilfusionierendem Jazz, ein Coup: Erstmals sollte ein abendfüllender Kunsttanz auf eigens komponierte Jazzmusik eines Schwarzen eine Negro Folk Play Groupe enthalten. Diese sowie die lokale schwarze Kinder-Tanzgruppe im Ensemble standen für Authentizität, wiewohl das Szenario eigentlich Martinique darstellte. Auf der Vorlage von Volksmärchen aus Martinique wollte Ruth Page die Hauptrolle tanzen, ballettisch sich gebären, im Finale jedoch als Hexe sich entpuppen. Als sie bald auf Katherine Dunham, die erste schwarze Balletttänzerin traf, war ihr Projekt
komplett: Die gesamte Companie des Abends bestand nun aus Schwarzen. Mit Dunham kaufte sie sich aber Authentizitätsanspruch ein: Da Dunham aus indianisch-westafrikanisch-madagassischer Herkunft war, im interdisziplinären und kosmopolitischen Geist der Chicago-Universität auf Unterstützung ihres anthropologischen Interesses stiess, wurde sie bald als erste Tanzethnologin auf den Weg geschickt. Mit einem Stipendium versehen durfte sie ihre Wurzeln in der Karibik erforschen und auf den Spuren ihrer Vorfahren tanzen. Sie wurde in Haiti mit offenen Armen empfangen, ihre tänzerische Fähigkeiten versprachen spirituelle Kräfte, und bald unterzog sie sich einem Initiations-Ritus zum Obi (einem spirituellen Führer). Die Empfehlungsbriefe ihres Professors wurden wohl dazu nur verräuchert. Von 1935-1937 betrieb sie Feldforschung, barfuss. Indem sie hervorhob, welch bedeutsame Rolle der Tanz ursprünglich in Kulturen hatte, stärkte sie die Position des Tanzes in der Moderne.
Die Beispiele, die angeführt wurden, zeugen von zwei Phänomenen, die in den letzten fünfzig Jahren auch getauft wurden, auf die Namen Cross-over und Multikultur.
Cross-over
Der Begriff Cross-Over hat nach Musikologen mit der Entstehung der Beurteilungslisten der Musikindustrie zu tun. Von den 20ern bis 1939 gab es wohl nur eine, welche die Beliebtheit von Musikstücken (und den absehbaren Kaufwert) bestimmte. 1943 gab es schon drei, die bestimmten Genre entsprachen, mittlerweile über vierzig. Die Aufteilung von Stilen und Publikumsgeschmack bildet eine Hierarchie, wonach die Hauptströmung (mainstream) die gängigste Musik ist, die aber der Nebenströmungen schon zur eigenen Abgrenzung bedarf. Cross-over wäre ein Aufsteigen einer Seitenströmung in die Hauptcharts. Manche vermögen darin ‘Integration’ und Akzeptanz marginalisierter Stile durch ein breites Publikum erkennen.
Wenn wir den Begriff auf die Genreüberschreitungen im Tanz anwenden, zeigt uns die Geschichte, dass schon immer das Bedürfnis bestand, hohen oder dominanten Kunststil (höfischen Tanz und Ballett) über Randerscheinungen, volkstümliche sowie exotische Stile anzureichern. Integration, Akzeptanz oder Kenntnis der betroffenen Kulturen bedeutete dies nicht.
Multikultur
Bewusstsein für kulturelle Vielfalt hatten das Habsburger Reich ebenso wie die Kolonialmächte und ihre Hochkultur in Frankreich und England. Was sich veränderte ist die wissenschaftliche Neugier, ihre Methoden und Techniken. Während in Amerika die Multikultur, idealisiert, identitätsbildend war (auch in Abgrenzung zum Dritten Reich), versuchen auch in Europa Kultusminister und Kuratoren mittlerweile, uns den Begriff schmackhaft zu machen. In Berlin entstand das Haus der Kulturen der Welt, interkulturelle Begegnungsstätten spriessen europaweit an allen
Ecken aus dem Boden, künstlerische Sozialprojekte versuchen in französischen Vorstädten und London das Explosionspotential zu kanalisieren und vielleicht gar für den Kulturbetrieb zu schröpfen. (Förderung indischen Tanzes in London, des Breakdancing in Lyon und Mobilisierung Jugendlicher der Berliner Vorstädte für die Berliner Philharmoniker in Rhythm is it! sind dafür Beispiele).
Wer hat noch Angst vor dem Multi-Kulti-Stilmix unserer Tage?
Im Zeitalter der grenzenlosen Mobilität und Mediatisierung sind die abgegren
ztesten Ethnien erforscht, abgeschiedene Lebensweisen gar im tiefsten Amazonien dokumentiert und kulturelle Nischen erschlossen. Minderheitenförderprogramme lassen diese zu
Wort kommen, Kulturprogramme sie an der zeitgenössischen Kunst teilhaben. Bangarra Dance Theatre z.B. verknüpft den Aborigines-Tanz Australiens mit zeitgenössischen choreographischen Elementen und tourt nun weltweit. Wir können in allen Städten afrikanischen, indischen Tanz lernen, Bauchtanz oder Capoeira. Interkulturelle Begegnungen sind auf der Tagesordnung. Auch beim Herstellen von Kunst. Wenn ein algerischer Immigrant, Kader Attou, sich mit indischen Kathak-Tänzern zusammentut, ist das Fusion, nach der Begrifflichkeit der Musik. Denn die Musik-Industrie hat das Genre World-Music bereits in den 80er eingeführt. Und kulturelle Cross-over innerhalb eines Genres nennt sie Fusio
n.
Solche Fusionen sind in der Entstehungsweise interessant, davon abhängig auch künstlerisch.
Fusion und Stilkontrast
Analog zum Genre World-Music müssen wir bei Koproduktionen genauer hinschauen: Bedienen sich renommierte Künstler einer exotischen (Klang- oder Tanz-)Kulisse, prägen dann aber in (post)kolonialistischer Manier mit ihrer dominanten Kultur das Ergebnis? Peter Simons produzierte mit dem Musikalbum Graceland authentisch vor Ort, in Südafrika, doch die afrikanischen Künstler blieben im Hintergrund. Fein geschulte Choreographen griffen in den 90ern in Frankreich gern auf die Breakdancer der exotischen Schwellenkultur zu
rück, aber eine ausgewogene künstlerische Zusammenarbeit entstand nicht. Genau hinschauen lohnt es sich auch beim Stil. Welche Stile sind in die Zusammenarbeit eingebracht und was generieren sie?
Wenn Kader Attou, ein erfolgreicher Breakdancer aus den Bidonvi
lle Lyons, der heruntergekommenen Vorstadt, Lust auf indischen Tanz bekam, so gründet das in seiner HipHop-Kultur: Treffen, Austauschen und Teilen ist da das Motto. Sein Projekt traf gleich auf Zuspruch bei der öffentlichen Hand. Doch er zog erst einmal privat, ganz allein, ein Monat nach Achmedabad. Er wollte den Hintergrund der verschiedenen Richtungen verstehen. So erfuhr er, warum das Aufrechte, Stolze des indischen Tanzes ihn an Flamenco gemahnte: die Zigeuner hätten es auf ihrer langen Reise von hier entlang der Seidenstrasse über Europa bis Spanien gebracht. Er entschied sich in Achmedabad für den Kathak-Stil, zu dem der bodennahe Breakdance gut kontrastierte. In der rhythmischen Bearbeitung des Bodens wiederum treffen sie sich. Die energetische Behandlung von weiten Räumen, über Drehungen und propulsierende Ausfallschritte der Kathak-Tänzer, korrespondiert gut mit der rebellischen Dynamik der B-Boys, zeigt aber auch, wie Linien durch den Raum im Breakdance nicht existieren. Ob es ihn nervt, auf der Woge des Multi-Kulti mitzureiten? Nein, die Vorwürfe der post-postmodernen Kritiker, wonach das stilistische Patchwork-Verfahren nur spielerische Willkür und freies Surfen zwischen Bedeutungen sei, erreichen ihn nicht. HipHop ist ein Auswuchs dieser kulturellen Vielfalt, muss sich nicht verteidigen und wird auch weiterhin fremde Stile aufspüren und Elemente einverleiben. Wie eh und je. Und dann fährt er fort: Er bette sie auch in Geschichten, wenn auch in kleine. (Kader Attou kehrte soeben aus New York heim, wo er sein neues Stück Petites histoires.com aufführte).
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/1/ Dahms, Sibylle. "Die Turquérie im Ballett des 17. und 18. Jahrhunderts" in: Tanzen anderswo: intra- und interkulturell, S. 67-83. Münster 2004.
/2/ Noverre, Jean Georges. Lettres sur la Danse et sur les Ballets, Stuttgart 1760.
/3/ Jeschke, Claudia. "Die 'spanische Tarantella' der Lola Montez. Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts". in: Tanzen anderswo: intra- und interkulturell, S. 97-120. Münster 2004.
/4/ Guest, Ivor: "Théophile Gautier on Spanish Dancing", Dance Chronicle, 10 1987 1, S. 1-105.