Dienstag, 26. Februar 2008

A Swan Lake



Richard Wherlocks Uraufführung vom 11. Jan. 2008 in Basel

Finger und Daumen zu einem Schnabel gepresst, ins Profil gedreht und armlang in die Höhe gereckt – ein Schwan wie im Schattenspiel. Den freien Arm – wie nach dem Fliegen – auf den Rücken verstaut und das ganze tief in eine ausgedrehte Beinbeuge (grand plié) versenkt: da haben wir den fertigen Schwan, der sich auf's Wasser niederlässt. Das geniale Leitmotiv vereint tierische Gestalt und Gewohnheit. Die Bewegungen des Tieres im Rampenlicht sind allerdings aus dem Kanon des Tanzrepertoires geschöpft. Es finden sich persifliert die Armwellen des romantischen Originals (vor dem Körper überkreuzt!) als auch männliche Flügelschläge wie in Mattew Bournes Swan Lake (1995). Wherlock will keine ornithologische Verhaltensforschung betreiben, das ist offensichtlich. So blendet er das Watscheln auf dem Festland aus, mit welchem Mats Ek die Kehrseite des eleganten Wesens 1987 blossstellte. Oder fällt es der tanzevolutionären Selektion zum Opfer? Als ehemaliger Rambert-Schüler und –Tänzer hat Wherlock keine Probleme, den Schwänen jede Menge moderne und überraschende Wendungen auf den Leib zu schreiben. Auf der Suche nach Entdeckungen wird ein Betrachter sicher bei diesem Teil des Abends, am See, fündig: wenn z.B. im Schwarm der Kopf über die Schultern kreist und die Achseln wie zum Abschütteln tropfnasser Flügel zucken.
Wie federleichtes Schwanentüll auf schweissblanke Männerhaut kontrastiert so kontrastieren bombastisch in Arabesquen gepeitschte (Fouettés-Arabesques) Arme und Beine zu geknickten Flügeln und einwärtsen ‘Enten’flossen. Wherlock hat keine Berührungsangst vor Stilen. Selten stilhomogen dagegen gelingt ein Duett zwischen Prinzessin (Aurélie Gaillard) und – verstorbener - Mutter (Cristina Sciabordi). Abseits allen Prunks im märchenhaften Grün eines hochragenden Waldes holt die Erscheinung mit wiegenden und ausholenden Bewegungen ihre Tochter ein. Diese erinnert-ahnt-versteht und folgt. Ein Juwel an getanzter Kommunikation. Im Palast dagegen ist das Leben auf Lüge und Intrige aus. Des Hofkanzlers Drahtzieher (Ayako Nakano und Sergio Bustinduy) defilieren mit betonter Virtuosität die gesamte Palette wetteifernder Eitelkeiten, die über die exotischen Einlagen der Musik der heutigen Choreographen-Generation vererbt ist. Die festliche Gesellschaft steht belustigt, aber steif am Rand wie zu Zeiten der Choreographieväter Ivanov und Petipa. A Swan Lake folgt getreu dem hergebrachten Libretto, webt gar noch eine grimm’sche Narration ein, um mit sechs zu Schwänen verwandelten Brüdern den Schwarm heterogener zu gestalten.
Jeder scheint an diesem Abend auf seine Kosten gekommen zu sein, die Liebhaber der klassischen Linie wie die Neugierigen auf Schrägheiten, als auch die dankbaren Hörer einer nicht zu lieblichen Interpretation der Originalpartitur Tschaikowskys unter Leitung David Garforths. 

Montag, 18. Februar 2008

Ausblick Februar


(erschienen in ensuite: Nr. 62 Februar, S.11)

Danse en Romandie zu Gast in Zürich
Von Videotanz, Frauennacht bis elektronisch verkabelte (und endlich auch mal akustisch geniessbare) Tanzbeine ist die Spannbreite, die diesjahr die Westschweiz den Zürichern bietet. Aufgeschlossene kommen auf ihre Kosten. Ins Tanzhaus kommt aus Genf, den manche schon aus der Alias Companie kennen, und zwar seit deren anspruchsvollen Anfängen: Jozsef Trefeli. Reinschauen ins Programm:
www.rotefabrik.ch und www.tanzhaus-zuerich.ch
Ort: Zürich, Tanzhaus 044 / 350 26 11
Aufführung: 22., 23. Februar 20:00 h, 24. Februar 18:00 h
Ort: Zürich, Fabriktheater, 044/ 485 58 28
Aufführung: 7.,9.,15.,16. Februar 20:00 h, 10., 17. Februar 18:30 h


HEIMSPIEL: das Festival der Berner Tanzszene
Februar ist in Bern der Monat des heimischen Tanzes. Es bietet neben den abendfüllenden Stücken jeweils eine Kurzpräsentation der Nachwuchskünstler der Region. Das Programm ist vielfältig und wird begleitet von einer Videoinstallation im Foyer der Dampfzentrale.
Ort: Bern, Dampfzentrale 031/ 310 05 40
Aufführung: 2.,6.,7.,9.,13.,14.,16.,22.,23.,26.,27.,29.Februar 20:00 h, 3.,10.,17. Februar 19:00 h.
Ort: Bern, Zentrum Paul-Klee
Aufführung: 21.,23. Februar 20:00 h, 24. Februar 18:00 h


Talentschuppen Theater Bern / Zürich
I.
Tanz made in Bern
Wer sich von (all zu) experimentellem Tanz erholen und einen Abend einlegen möchte, wo solides Handwerk professionneller Tänzer waltet, für den ist der Junge-Choreographen-Abend geschaffen. Einen unglücklicheren Titel als “Tanz made in Bern” hätte man im Monat des Regionaltanzes (für die Tänzer aus aller Welt) kaum finden können.
Ort: Bern, Vidmarhallen 1, 031/ 329 51 11
Aufführung: 7.,8. Februar 19:30 Uhr


II. Zürichs
Le souffle de l’esprit/Road B./Abschied/Before Nightfall
Das Stück “Road B.” stammt aus der hauseigenen Talentschmiede. Auch da ist handwerkliches Können garantiert. Empfohlen nur für Experimentaltanz-Überdrüssige. “Es ist im Grunde erstaunlich: Da haben diese vielbeschworenen “jungen Choreographen” Stücke z.B. von William Forsythe … getanzt, und doch arbeiten sie, als hätte es die Dekonstruktionen, … die Neuerungen der vergangenen 20, 30 Jahre nicht gegeben”, schreibt das tanzjournal dazu.
Ort: Zürich, Opernhaus Theaterplatz 01/ 268 66 66
Aufführung: 24. Februar 14:00 h

Sonntag, 17. Februar 2008

Pina Bausch: Orpheus und Eurydike


Nach 33 Jahren wurde Pina Bauschs Orpheus und Eurydike im Pariser Palais Garnier mit dem Ballet de l'Opera de Paris aufgeführt. Das grosse Ereignis wurde am 16. Februar 2008 von Arte live aufgezeichnet.
Pina Bausch hat 1975 Glucks Musik vier Themen abgelauscht: Trauer, Gewalt, Friede und Tod. Diese Grundstimmungen strukturieren das Werk, nicht ein Handlungsfaden. Das Stück beginnt in Trauer um Eurydike. Während die Klageweiber wie der Chor der griechischen Tragödien die Szene kommentieren und die eigentliche Trauerarbeit leisten, irrt Orpheus wie verloren umher. Sein Blick bleibt nirgends haften, das heisst – er starrt gen Himmel, dann lässt er den Kopf hängen. Hat je ein Solist an der Pariser Oper sich wie hier Yann Bridand einen Abend lang ohne aufrechten Kopf behaupten müssen? Bei Pina Bausch ist dieses Motiv konstitutiv. Eurydike, seine Anvertraute, für immer aus den Augen verloren, was wäre da noch eines Blickes wert?
Die schwarzen Klageweiber biegen sich schmerzgeladen, dicht an dicht gedrängt, in verzerrte bis zum Anschlag gedehnte seitliche combrés. Den Kopf unbequem dagegendrehend, graben sie ihr Gesicht in den combré-Arm. Wer sonst sollte Trauer wahrhaft authentisch nachempfinden lassen, wenn nicht eine Tochter des deutschen Ausdruckstanzes? 
Die Götter bieten Orpheus die bekanntlich zweischneide Erlösung aus seiner Verzweiflung: er darf in den Hades, Eurydike nehmen - aber nicht anblicken. Der Hades ist von wilden Furien bewacht, so dass Pina Bausch ganz der Dynamik der Musik gemäss den ersten Teil des zweiten Aktes “Gewalt” betitelt. Darin fliegen die Furien über die gesamte Bühne, eine machtvolle Choreographie die auch technisch sehr abwechslungsreich ist, dank der Anwesenheit sowohl weiblicher als auch männlicher Furien (ja, man meint genderspezifische Wutqualitäten ausbrechen zu sehen): geworfene Hebungen, man müsste sagen Schleuderungen sind so möglich, ebenso das Gegenhalten zweier weiblicher Furien durch männliche Hand, die sich wiederholt rücklings auf den Boden werfen (Nachhall eines Grahamschen backfall).
Zweiter Teil des III. Aktes: Im Elysium, schliesslich sind die Furien besänftigt, herrscht ein anderer Ton: “Friede” nennt Pina Bausch diesen Teil. Die sanften Toten, zumal nur weiblich ganz in pastell gehüllt, rufen nun doch dem Zuschauer Erinnerungen an gewisse Wesen (Wilis) der Tanzgeschichte wach. Mag sein, dass dazu einiges die leichte und romantische Armführung des Pariser Ensembles beiträgt. Vielversprechend sticht, mit kräftigerem Oberkörper versehen, eine hervor: Marie-Agnès Gillot als Eurydike. Ihre Arme sind weniger am Federleichten geschult, ihre Gesten gewichtiger. Man kann aus ihrem klaren Solo Bewegungsssequenzen herauslesen, die schon im I. Akt auftauchten und später wieder aufgegriffen werden: lange Arme über die Seiten hochgeführt bis zur Senkrechten über dem Kopf. Die Hände werden von dort zum Gesicht zurückgezogen während die Ellebogen verbleiben – nur spitz, einander berührend. Gen Himmel. Aus dieser Position wird sie im III. Akt ob Orpheus’ Kälte die Unterarme wie im Schrei hervorschleudern und den Kopf zurückwerfen. Doch vorerst wird sie Orpheus zugeführt.
Im letzten Akt, “Sterben”, wird Eurydike an Orpheus’ Hand gewahr, wie er sich von ihr abwendet. Und nichts erklärt. Diese Kälte kann sie nicht ertragen, nicht an Orpheus und nicht an ihrer Seite. Beide stehen von einander entfernt vor der beissend weissen linken Bühnenwand. Sie suchen schweigend ihre Gesichter darin zu vergraben. Nein, da will sie schon lieber zurück ins Totenreich. Sie schreitet wie gelähmt von hinten, zum Abschied, auf Orpheus zu. Das göttliche Geheimnis wie eine Kluft zwischen ihnen, bleibt sie ein Schritt hinter ihm, wölbt den Hals in einer Kurve zu ihm hinüber und senkt die Stirn sacht auf seinen Nacken. In diesen kleinen Gesten ist die Königin des Tanztheaters ganz gross. Orpheus stürzt in äusserste Gewissensnot. Er sinkt auf der Stelle in einer S-Kurve ins grandplié und immer wieder zu Boden, bis er sich aufrafft und – sie tief anblickt. 
Der Rest ist freigewählte Tragik. Seit dem 20.Jahrhundert wird die barocke Oper ohne die zweite Gnade der Götter beendet. 
Paris leistet mit dieser Einstudierung durch die ursprüngliche Besetzung aus Wuppertal ein grossartiges Zeitzeugnis, das Arte mit einem der seltenen Interviews mit Pina Bausch zwischen den Akten kürt. Wir haben die Gelegenheit, Zeuge zu werden von Pina Bauschs souveränem choreographischen Können, ohne modern Dance-Berührungsängste oder -Verdrängungen, mit der Wucht und Pietät, die Glucks Musik erfordert.

Freitag, 15. Februar 2008

Die Anfänge des Modern Dance Folge IV



(erschienen in ensuite: Nr. 62 Februar, S.7-11)

Der Ausdruckstanz


Die Anfänge des modernen Tanzes: Folge IV



Monte Verita, die Wiege des Ausdruckstanzes

Emil Nolde betrachtete den bizarren Tanz Mary Wigmans (damals noch: Marie Wiegmann) und meinte: “Es gibt noch jemanden, der tanzt wie Du: Rudolf von Laban!” Die frisch diplomierte Rhythmische-Gymnastik-Lehrerin vom Dalcroze-Institut in Hellerau, Mary Wigman, konnte bislang nur in der stillen Kammer tanzen wie sie wollte. Dalcrozes Theorie war nämlich, dass sich Dynamik, Taktart und Struktur der Musik durch tanzähnliche Bewegungen besser nachempfunden und verstanden werden. Nicht aber, dass Tanz etwas Unabhängiges sei. So folgte sie im Sommer 1913 dem verheissungsvollen Mann Rudolf von Laban auf den Monte Verita bei Ascona. Sie musste nur den Gongschlägen und Handtrommeln nachgehen und oben erwartete sie die Freiheit: Improvisationen im Tanz frei von Musik, Nacktkultur, sowie mystische Naturspiele. Der Tanz der Dämmerung erfolgte bei Sonnenuntergang am Berghang, der Tanz der Dämonen um Mitternacht um ein Feuer herum, der abschliessende Tanz des Sonnenaufgangs richtete sich gen Osten. Was steckte hinter den kultischen Ritualfeiern?

Nietzsches Einfluss

Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra wirke auf die Avantgarde-Künstler mit seinem prophetischen und biblischen Duktus magisch: Jeder fühlte sich berufen, dem Aufruf zu folgen, mit Überkommenem zu brechen und die schöpferische Lebenskraft ganz aus sich zu entfalten. Dem Tanz fiel dabei eine ganz urtümliche Rolle zu. Der dionysische Tanz sei die ursprünglichste Bekundung der Freude, deren heilsam-ekstatische Kraft. Laban verkündete diese die ganze Menschheit betreffende Verheissung mit Vorliebe. Alle sollten von den Zivilisationsschäden erlöst werden. Für Mary war Nietzsche zwar ein Wegweiser, doch nur ein “zweidimensionaler Tänzer, […] dieser Vortänzer des Übermenschen jammert noch zu viel und tanzt noch lange nicht genug”. Als im nächsten Sommer, im August 1914, Deutschland die Generalmobilmachung ausruft, verwaist die schweizer Sommer-Kolonie auf dem Monte Verita. Laban und die mittlerweile zur Assistentin avancierte Mary Wigman bleiben sich und ihren Selbststudien überlassen. Laban fürchtet, als ehemaliger k.u. k.-Reserveoffizier noch eingezogen zu werden. Ihre ausgearbeiteten Pläne für ein Tanzzentrum in Deutschland werden kurzerhand nach Zürich verlagert (Vera Skoronel und Berthe Trümpy werden dort ausgebildet, zwei grosse künftige Mary-Wigman-Tänzerinnen). Laban tritt einer Freimaurerloge bei. Seinen Appetit auf rituelle Festlichkeiten kann er als Hauptzeremonienmeister hier gewiss stillen. Bald schon gehört Rudolf von Laban zur künstlerischen Szene Zürichs. Diese wird von den Dadaisten bevölkert. Ihre Auffassung von radikaler Neuerung liegt ihm. In ihrem Kreis sind die ersten Auftritte seiner Schule, so wie umgekehrt Labans Tanz-Freundeskreis die treuen Bewunderer der Dada-Ausstellungen bildet. Nur eine ist seltsam immun gegenüber dem ironisch-verspielten Dada: Mary Wigman mit ihrem weihevollen Ernst. Sie bleibt dem Expressionismus verhaftet. Ergriffen präsentiert sie dem Dada-Kreis eine deklamatorische Vertanzung des Werks Also sprach Zarathustra. Ernst ist es wohl auch der deutschen Regierung, wenn sie mit 150 000 Exemplaren dieses Buch nebst Bibel den Soldaten auf den Weg an die Front mitgibt.
Im Züricher Stadttheater, dem Pfauentheater, erntet Mary Wigman 1917 vom bürgerlichen Publikum nur Hohn und Pfiffe. Die NZZ fragt: “Weshalb […] melancholisches Spekulieren über nächtliche Abgründe, wenn rings umher frische, grüne Weide liegt?”

Was bringt die grüne Weide?

Was also treiben die Begründer des Ausdruckstanzes, Mary Wigman und Rudolf von Laban auf den saftigen Wiesen von Ascona? Laban mißt mit dem Meterband … die Beweglichkeit des Körpers aus, setzt das Winkelmass an Mary an. Eine bahnbrechende Arbeit beginnt: Laban versucht eine definierbare Struktur für ein Modell der menschlichen Bewegung auszumachen.

Labans Theorie

Wie Leonardo da Vinci in seiner Federzeichnung Der vitruvianische Mensch zeigt, ist der Mensch den Proportionen der Körperglieder gemäss sowohl in einen Kreis als auch in ein Quadrat zu spannen. Der Forscher Laban, am plastischen Bewegungsradius interessiert, platziert ihn in eine Kugel und einen Würfel. Doch es stellt sich heraus, dass die ideale geometrische Figur, welche sowohl den Proportionen als auch den meistgenutzten Richtungen gerecht wird, der Ikosaeder ist (ein Zwölfeck). Von seinen Kanten aus hat der Ikosaeder durch seine Mitte drei gleiche rechteckige Flächen gespannt, die jeweils senkrecht zueinander sind. Diese drei Rechtecke entsprechen zum einen dem aufrechten Mensch in seitlich leichtgespreizter Arm- und Beinposition (in der vertikalen Fläche), zum zweiten demselben aufrechten Menschen in vor-rück-gespreizter Position (in der sagittalen Fläche) und zum dritten einer Ebene um den Nabel herum, die wie eine Tischplatte sowohl die horizontale Richtungen, in die wir uns bewegen können als auch die Beinrichtungen im 90 Grad Winkel erfasst (die horizontale Fläche).
Dies ist erst der Anfang. Der Tänzer im Raum, mit seiner Orientierung, Symetrie, Proportion, aber auch die Gestalt der Bewegungsabfolge gehört zu seiner Theorie der Choreutik. Dann aber stürzt er sich in das unglaubliche Unterfangen, eine Systematik menschlicher Dynamik, der möglichen Dynamiken menschlicher Bewegung zu entwerfen. Diese nennt er Eukinetik. Natürlich ist die Eukinetik im Zeitalter des Ausdruckstanzes besonders aktuell und fordernd. Denn jede Dynamik ist dem Ausdruckstanz willkommen, keine tradierte Ästhetik trifft eine Auslese. Systematisch sucht Laban erst nach gemeinsamen Faktoren hinter den Antriebskräften, wie er die Dynamik auch nennt: Allen ist Raum, Zeit und eine Kraft gemein. Jede dieser Faktoren erstreckt sich auf einer Skala zwischen zwei Polen (bei der Zeit wäre die Skala zwischen “plötzlich” und “allmählich”). So unwahrscheinlich es klingt, Laban schafft es, jede menschliche Dynamik in der Kombination dieser Faktoren zu beschreiben. Es gelingt ihm nicht nur sie derart zu analysieren, sondern ihr auch eine Notation zuzuweisen. Eine Notation, die des Namens würdig ist: sie bleibt entzifferbar und anwendbar. Mehr noch, sie kann (angeblich) durch Zusätze mit den Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz mithalten.
Was für einen Nutzen bietet die Theorie für den Tänzer? Laban meinte, er könne eine Art Tonleiter, A-Skalen und B-Skalen, sogenannte “Laban-Schwünge” anhand des Ikosaeders anbieten, die wie Morgengebete den Tänzer auf die Erfordernisse des Tages einstimmen. Doch als Mary Wigman die verlangten Bewegungsskalen mit der ihr eigenen, ganzen Hingabe tanzte, unterbrach sie Laban wütend, “sie würde mit ihrer schrecklichen Ausdrucksintensität seine ganze Theorie tänzerischer Harmonie ruinieren.” – Mary wird ihre künstlerische Entfaltung ohne Labans Theorie zuwegebringen.

Mary Wigmans Stil

Auf  dem Monte Verita griffen mit dem Aufenthalt C.G. Jungs die Gedanken der Psychoanalyse um sich. Marys Hexentanz, Dämonentänze und ekstatischen Stücke befinden sich an der Schnittstelle zwischen Tiefenpsychologie und einer eigentümlichen wigmanschen Metaphysik. Betrachten wir uns den ekstatischen Tanz. Mit ihrer Drehmonotonie hat Mary Wigman eine bemerkenswerte Trancetechnik entwickelt. Ihr Körper bildet unverrückbar eine Achse, um die sie mit stets einwärts übertretendem Bein eine Spinnkraft entwickelt, die sich in einer zunehmenden Geschwindigkeit entlädt. Während ihre Arme seitlich wellenartige Akzente geben, wird ihr Körper immer weiter nach oben gesogen, was sie als einen Schwebezustand empfindet. Bis zu acht Minuten hält die Trance. Die Gegenstände, von anbeginn nie anvisiert (im Gegensatz zum Fixieren eines Punktes mit dem Blick beim klassischen Tanz), verschwimmen. Sie fühlt sich einerseits enthoben, andererseits “als Mittelpunkt des grossen Bewegungsgeschehens”. Dann aber wiederum – und das relativiert den egozentrischen Blick – als eine Art Symbol “Teil aller unendlich schwingenden Weltkörper”. So heisst’s im Tagebuch. Mary Wigmans Ausdruckstanz war immer bedeutungsgeladen. Die gedruckten Begleitworte waren aber selten erhellend.

Mary Wigmans Wirkung

Als die Schweiz Marys Aufenthalt nach dem Krieg nicht weiter genehmigt, geht sie nach Dresden, der vorerst einzigen deutschen Stadt, die ihr zujubelt. Als die ihr versprochene Ballettmeisterstelle an der Semperoper anderweitig vergeben wird, springt die Züricher Industriellentochter Berthe Trümpy zu Hilfe und kauft in Dresden ein Haus, die künftige Mary-Wigman-Schule. Mit ihrem neuen Stil wirkt Mary wie ein Magnet. Innerhalb ein-zwei Jahren hat sie die besten Tänzer des Landes um sich: Harald Kreutzberg, Hanya Holm, Gret Palucca, Max Terpis, Yvonne Georgi (neben den alten Schülerinnen Vera Skoronel und Berthe Trümpy). Wenn ein Winterthurer Mäzen 1923 die Bildung der ersten modernen professionnellen Truppe sponsort, ist es keine Fehlinvestition: ihr ist Erfolg beschieden. Sie erobert nach und nach landesweit Publikum und Presse und scheint auf dem zweiten Tänzerkongress gegenüber dem rivalisierenden Laban-Lager künstlerisch den Sieg davonzutragen.
Ab da hört man aber kritische Stimmen vom Fach: der Höhepunkt sei wohl hinter ihr, der Pathos nicht immer erträglich. Ihre Truppe muss sie aus finanziellen Gründen auflösen. Zwei Gastspiele in New York treffen noch auf Euphorie, das dritte auf Sättigung und Ablehnung. Wigman scheint nur noch beim konservativen Bildungsbürgertum gefragt, die Aufgeschlosseneren richten ihren Blick auf Gesellschaftskritik. Valeska Gert, Kurt Jooss und der rote Tänzer Jean Weidt sind die engagierteren Tänzer. Bewegungstechnisch gehören sie (noch) zum Ausdruckstanz.

Unter’m Hakenkreuz

Ab 1933 ist es vorbei mit der Gesellschaftskritik. Mary Wigman ist für die NSDAP hoffähig. Obwohl aus Goebbels Tagebuch hervorgeht, er wünsche sich den Tanz “beschwingt und schöne Frauenkörper zeigend”, statt “philosophisch [wie] Pallucca und Mary Wigman”. Doch ihre Philosophie muss ihm schmeicheln: sie schreibt 1935 ein Buch zum deutschen Wesen: “Die deutsche Tanzkunst”.
Mary Wigman legt keinen vorauseilenden Gehorsam an den Tag. Sie fügt sich aber ohne viel Erhebens. Und ohne Kommentar. In ihrem Tagebuch beispielsweise vermerkt sie 1934 wortkarg: “Clärchen Goldschmidt nicht mehr da, Selbstmord.”
Auch Harald Kreutzberg, ein begnadeter und weltberühmter Ausdruckstänzer, schafft es, sich ohne jegliche Stellungnahme durch das Dritte Reich zu manövrieren: “Das Schicksal ersparte mir eine Stellungnahme, die unweigerlich zum Bruch und für mich zur Katastrophe hätte führen müssen.” Er blieb ein persönlicher Günstling Goebbels, und wurde als “kultureller Propagandist” bis zum Krieg auf Auslandtourneen geschickt. Rudolf von Laban war da schon dezidierter, vielleicht aus der unsicheren Lage eines Nichtdeutschblütigen heraus. Er schmeichelte mit seinen grossformatigen Bewegungschören, die in den Dienst der Zusammengehörigkeit des deutschen Volkes gestellt wurden. Er war Direktor der Berliner Staatsoper bis 1934, Leiter der Deutschen Tanzfestspiele 1934, Direktor der neugegründeten Tanzbühne, anschliessend der Deutschen Meisterwerkstätten für Tanz und geladen für die Olympischen Festspiele 1936. Dann aber war sein Schicksal ihm nicht mehr hold und die Emigration folgt…
Als ein Verantwortlicher für Erb- und Rassenlehre sich 1934 in die Schule Mary Wigmans niederliess, wo sie übrigens auch lebte, vermochte er ihr keine inhaltliche Auseinandersetzung entlocken. Nicht einmal im Tagebuch. Sie konstatiert nur: “Keine Privatexistenz mehr. Gefängnisleben hier im Haus. Nichts zu machen”.

Einer, der es anders macht: Kurt Jooss

Kurt Jooss war Schüler und bald Assistent Labans nach dessen Schweizer Zeit. Da Laban mehr noch als choreographieren, die Menschen aus ihren Hemmungen zu lösen liebte, hatte Jooss genug Gelegenheit, sein schöpferisches Talent anzubringen. 1924 fühlte er sich reif und just bekam er eine Ballettmeisterstelle in Münster angeboten. Nur wenige schafften es damals von der freien Szene ans Theater, denn nur vereinzelte Theater hatten den Mut für radikal Neues (Mary Wigmans Vertragsangebot an der Semperoper wurde wie erwähnt kurz vor Spielzeitbeginn zurückgezogen). Als Kurt Jooss’ Partner, ein Tänzer, Bühnenstauballergie bekam und die Stelle aufgeben musste, gründete er mit ihm eine Schule. Mehr noch: Zusammen mit dem Operndirektor die erste spartenübergreifende Kunstausbildung Deutschlands. Für den Tanz schwebte ihm vor Augen, ihn “von jeglicher weltanschaulichen Vermummung zu entkleiden”. Aus ihr wird die legendäre Folkwangschule entstehen, noch heute die Adresse für modernen Tanz. Die Labanschen Methoden der Choreutik und Eukinetik bildeten die Grundlagen.Jooss integriert
Inzwischen fand der erste Tänzerkongreß (1927) statt. Die zersplittertste aller Kunstarten (von Gesellschaftstanz, klassischem Bühnentanz bis freiem Tanz) sollte einheitlicher in der Öffentlichkeit (auch in Lohnfragen) auftreten können, eine Gewerkschaft gründen und eine staatliche Ausbildungsstätte fordern. Alle namhaften Tänzer und Pädagogen waren zur Stelle – außer Mary Wigman. Rivalitäten, schon bei der Organisation, führten zu ihrem Fernbleiben. Und zu ihrer Gründung eines eigenen Interessenverbands. Kurt Jooss übernahm daraufhin die Organisation des zweiten Kongresses und schlichtete zwischen zwei Verbänden. Bei der Frage der Tanzakademie kristallisierte sich im Plenum des zweiten Tanzkongresses der Zwiespalt in der Tanzwelt heraus: Klassik oder Moderne? Soll das klassische Ballett noch in einer neu zu schaffenden Ausbildung vertreten sein oder ist dem modernen Tanz à la Mary Wigman als kultureller Neuerung voll und ausschließlich Rechnung zu tragen? Kurt Jooss stand für eine Synthese ein. Er forderte die Tänzer auf, sich so vielseitig wie möglich zu bilden. Ein noch heute gültiger Rat.
Essen war im kulturellen Aufwind. Das Ruhrgebiet, die Arbeiterregion Deutschlands, wollte sich Kultur leisten, und zwar gute. Hatten die Münsteraner Spiessbürger gerade gegen ihre Theaterleitung intrigiert? Um so besser! Essen empfing nach und nach die gesamte Münsteraner Rige samt der interdisziplinären Akademie von Kurt Jooss. Der gute Ruf der Akademie machte an Landesgrenzen nicht halt. Essen ging auch auf Jooss’ Vorschlag ein, den erwähnten zweiten Tanzkongress zu beherbergen und hielt hoffnungsvoll an Kurt Jooss fest, als er von der Berliner Staatsoper ein Angebot erhielt. Jooss empfahl Rudolf von Laban für den Posten. Dieser wirkte seit kurzem an der Folkwang-Schule (nachdem er - wie des öfteren – gerade Konkurs gemacht hatte). Und Laban geht. In den darauffolgenden Jahren der Depression privatisiert sich die Schule, um der Stadt nicht zur Last zu fallen, und die Lehrer arbeiten für das halbe Geld.

Jooss kritisiert

Auf der Bühne präsentiert Jooss Choreographien, in denen er sich von seinen expressionistischen Anfängen, “dem freien, in seiner Art ‘barbarischen’ Ausdruckstanz” abkehrt, wie er meint. Die Gefühlsinsbrunst war noch nie seine Sache, und nun sieht er sich von der neuen Sachlichkeit gefordert: von “sparsamer Oekonomie und kunstgemässer Beschränkung”. Er stellt den Menschen in ein bestimmtes und ihn bestimmendes Milieu. Das war unweigerlich Gesellschaftskritik. Er brandmarkt den Kontaktmangel der Menschen, die rastlos hastende Gesellschaft. Als Abonnent der Weltbühne liest er Tucholskys Aufrufe zum Aufrüstungsstop. 1932 schöpft Jooss für einen Choreographenwettbewerb in Paris ein Stück über den Krieg mit dem Titel “Der grüne Tisch”. Es wird ein ausserordentlicher Erfolg und erhält den ersten Preis. Es gilt als sein gelungenstes Werk mit seiner formalen Engführung. An einem langen Tisch, der sich bis in den Bühnenhintergrund zieht, biegen und beugen sich zu beiden Seiten wichtigtuerische Beamte in Frack. Sie steigern sich in einen Streit, ein Schuss fällt und der Krieg ist lanciert. Der Tod, ein steifes Uniformen-Skelett, sucht nach und nach alle Gesellschaftsschichten heim. Der Tanz ist ein beklemmender Todesreigen, an dessem Ende das Anfangsbild steht, der Tisch mit viel Frack. Welcher Kontrast zu Wigmans heroischer Behandlung des Todes an den Olympischen Festspielen!
Als 1932 mit einem neuen Intendanten der Hitlergruss am Theater eingeführt wird und die jüdischen Mitarbeiter gekündigt werden, nimmt Jooss seinen Hut. Den gekündigten Mitarbeitern erwirkt er über bürokratische Hindernisse hinweg noch Ausreisegenehmigungen als Mitgliedern seiner (selbständigen) Tournee-Kompanie. Der lebenslange Freund und jüdische Komponist Fritz Cohen darf nicht mehr das Theater betreten und Jooss solle, wenn’s denn nun sein muss, dessen Stücke spielen, ohne den Namen zu nennen. “Darauf antwortete ich: Wenn Sie glauben, daß jüdische Musik für Deutsche schlecht ist, bleibt es jüdische Musik, ob Cohens Name nun erwähnt wird oder nicht”. Auftrittsmöglichkeiten in Deutschland ergeben sich keine mehr. Auch wenn Jooss es nicht wahrhaben will. Wenige Tage vor der geplanten Niederlanden-Tournee erhält er aus Freimaurerkreisen einen Wink, das Land schnellstmöglichst zu verlassen. Er gibt daraufhin der Presse den offiziellen Abreisetermin in drei Tagen bekannt. Joss packt über Nacht die Koffer, bringt seine Tochter unter und reist samt Kompanie vor Tagesanbruch ab. Wenige Stunden vor dem offiziellen Termin klingelt es an seiner Tür in Essen. Sein Partner Leeder öffnet die Tür: eine “Kommission” wünscht Jooss, vergeblich, und konfisziert die Wohnung.

Jooss’ Wirkung ausser Landes

Kurt Jooss, seine Kompanie und Dutzende ihm nachfolgende Schüler finden in der reformpädagogischen Akademie Dartington in England ein gastfreundliches Zuhause. Von dort aus tourt Jooss weltweit. Die Einladung, an den Olympischen Festspielen teilzunehmen, lehnt er ab und verweist auf das solistische Kollektiv seines Ensembles, das den erwünschten Massenformationen so gar nicht nahekommt. Bei einer Durchreise durch Paris stösst Jooss 1937 auf einen heruntergekommenen Rudolf von Laban. Er ist sehr krank, in Deutschland kürzlich in Ungnade gefallen und unerwünscht. Als ihn Jooss auf der Rückreise in unverändertem Zustand wiederfindet, nimmt er ihn nach Dartington mit. Dort verfasst Jooss 1939 ein Stück über den Aufstieg eines Tyrannen. Die negative Figur wandelt sich in eine positive, als sie durch ein Selbstopfer eine eskalierende Katastrophe verhindert. Der Kriegsausbruch wenige Wochen nach der Premiere strafft diese Hoffnung Lügen. Kurt Jooss schickt seine Kompanie zum ersten mal allein auf Tournee nach Übersee. Er selbst möchte der britischen Regierung gegen das verhasste NS-Regime in welcher Form auch immer zur Verfügung stehen. Womit er nicht rechnen kann: sie kommen und stecken ihn in Haft. Erst als sich renommierte Persönlichkeiten wie der Volksökonom Lord John Maynard Keynes für ihn und ähnliche “feindliche Ausländer” einsetzen, kommt Jooss nach einem halben Jahr frei.
Im Exil machte Jooss die Welt mit seiner Kunst bekannt, im Nachkriegsdeutschland macht er den tänzerischen Nachwuchs mit der verpassten Welt bekannt: Er wird den Nachwuchs an der Folkwang-Schule mit den weltweit besten Lehrkräften versehen, die in den Exiljahren ihm zu Freunden wurden. Pina Bausch wird eine sein, die davon profitiert.

Die nächste Folge: Das Tanztheater aus der Linie Kurt Jooss’

Dienstag, 5. Februar 2008

Pina Bausch: Orpheus und Eurydike

Wie kommen Choreographen des Tanztheaters oder der freien Szene wie Sasha Waltz dazu, freiwillig Operneinlagen zu liefern? Nachdem der Bühnentanz sich jahrzehntelang von der Opern-/Operettensparte zu lösen suchte? Die Antwort: Tradition!
Es gab immer wieder Festspiele (Salzburg, Bayreuth, Schwetzingen), die sich nicht scheuten, die Avantgarde zu verpflichten. Rudolf von Laban, Kurt Jooss, Harald Kreutzberg, Mary Wigman fanden so für ihre experimentellen Werke eine professionelle Plattform und aufgeschlossenes Publikum. Während Laban seiner Vorliebe für Wagner-Opern fröhnte, zog die Ausdruckstänzerin Mary Wigman, die sonst vorwiegend zu Gongs oder Geräuschmusik tanzte, Gluck vor. Orpheus und Eurydike ist 1947 von Wigman in Leipzig inszeniert worden. Waghalsig verbannte sie damals die Sänger in den Orchesterraum (gar in den Graben?) und ließ ihre Tänzer Bewegungschöre bilden. – Es wurde ein Erfolg. Während Mary Wigman erst am Ende ihrer Laufbahn sich den Opern widmete, stehen sie bei Pina Bausch ganz am Anfang. Ihre Anfänge an den Wuppertaler Bühnen sind markiert von Opern-Choreographien. Ihre zweite Premiere am Haus ist Iphigenie auf Tauris (1974), das bei einer Rezensentenumfrage als “wichtigstes deutsches Tanzereignis” gewertet wurde. Ein Jahr danach entsteht ihre Version von Orpheus und Eurydike (1975).
Noch hat, im Jahre 1975, Pina Bausch nicht ihren Tänzern Stimme verliehen, noch hat sie nicht dem Modern Dance abgeschworen. An das Ensemble der Pariser Oper adaptiert wird die Choreographie das (tänzerische) Bewegungspotential von Pina Bausch uns noch einmal aufdecken.
TV-Programm: Arte, 16.02. um 19.30 h erster Teil, 21.05 h zweiter Teil.