Montag, 18. August 2008

Lucerne Festival


Der Tanz löst sich In Schnee auf

Das Lucerne-Festival hat Tanz in eine TanzMusik–Reihe eingebettet, Joachim Schloemer als Artiste Etoile für die Festivalzeit engagiert. In Schnee ist die erste tänzerische Ausbeute, die am 15. August mit den anspruchsvollen sechs Cellosuiten Bachs feilgeboten wurde.
Joachim Schloemers Schneelandschaft ist von jedem Zauber oder Bedrohlichkeit beraubt. Er hat sich zwar von Thomas Manns Zauberberg inspirieren lassen, wo Castorp im Schneesturm Halluzinationen erliegt, doch auf der Bühne gibt es nur aufgestapelte Stühle, unter welchen dieser Schutz sucht. Vor was? Schneegestöber wird in Miniatur in ein Eck projeziert. Wir sind nun im Bilde. Da bietet eine Hütte verlockenden Unterschlupf. Er kehrt ein und erliegt dem Sog einer bunten Gesellschaft. Bunt gestaltet Schloemer Castorps (Daniel Jaber) tänzerische Auseinandersetzung mit jedem einzelnen: Eine Athletin verliert in seinen Armen stets die sportliche Haltung, eine Kokette in Lila kriecht ihm – wo nicht unter die Haut – doch stets in den Mantel, eine blasse Sekretärin erbleicht auf Schritt und Tritt mit ihm im Duett. Der Mann in Rot plustert sich und schmückt sich mit akrobatischen Hip-Hop-Posen und zu ‘Victory’ gespreizten Fingern. Hin und wieder wird der Blick freigegeben auf das Beziehungsgeflecht der Gesellschaft. Doch das filmische Verfahren, das schon Pina Bausch praktizierte, die Montage, setzt den Schnitt in (allzu) Kürze an. (Schnitt hier: Abbruch des Tanzschritts, Lichtwechsel, Teppich verlegt oder eingerollt). Die Personen werden nicht plastisch, ihr Verhältnis wird nicht motiviert. 
Nur eine Szene nimmt sich die Zeit, eine Gruppenkonstellation und ihre Atmosphäre tänzerisch zu erwirken. Sie verrät Schloemers choreographische Qualität, der schon seit langem nicht mehr Bewegungen erfindet, wie er im einführenden Künstlergespräch gesteht. Choreographieren verstehe er als kompositorisches Verfahren, er arrangiere geliefertes Material. Seine Tänzer brächten ihre eigene Bewegungssprache und ausreichende Kreativität mit, betont er weiter. Entsprechend ist die Szene gelungen, weil er die sechs eigenständigen Stimmen zu orchestrieren vermag und eine Atmosphäre sich bildet, das cappricioso: Auf einer Stuhlreihe, in der Hütte nebeneinandergereiht, sitzt und liegt die bunte Gesellschaft. Sie fallen sich in den Schoss, rollen aneinander ab und katapultieren sich wieder zurück auf die Sitze. Castorp fühlt sich von der Truppe angezogen, prallt aber an der Phalanx ab, wird von Schössen abgewälzt oder samt Stuhl weggekippt. Flinke Frauen fliegen ihm um die Ohren, springen im grand jeté über seine Lehne, direkt einem Glücklichen in die Arme. Castorps Schulter dient da nur zum Abstoss, - und er sackt zusammen, wie nach jeder Phrase dieser Szene. 
Tänzerisch wäre noch das synchrone Duett von Clint Lutes und Maria Pires hervorzuheben, das stilistisch vom modern dance abgeleitet so kohärent und rein, doch so unvermittelt auftaucht wie eine virtuose Einlage. Oder eben eine Halluzination.
Aufblitzende Halluziniationen, nur durch das Baugerüst der Hütte zusammengehalten, erlangen nicht die Kraft, die mitreisst. Castorp soll bei diesem tiefen existentiellen Erlebnis sich selbst gefunden haben. Wir werden davon nicht mal Zeuge.

Musik im Zentrum einer Leere

Im zweiten Teil, dem “philosophischen”, wie Schloemer ihn nennt, rückt die Musik zunehmend in den Mittelpunkt. Anfangs sitzt der Cellist noch abseits neben Castorp, der in Erinnerungen schwelgt. Bizarre gefilmte Schneeauftürmungen und Verführungsgesten der Hüttenbewohner flimmern vor seinen Augen und den unseren. An der Bühnenrückwand lehnen zwei schlanke, hohe Projektionsflächen. Sie überlappen sich, dazwischen lugt ab und an ‘ne Hand, am Rand ein Arabesque-Bein, am anderen drei Köpfe hervor - keine zündend neue Idee. Doch die Präsenz der Tänzer macht sich rar und rarer. Alsbald treten sie nur noch, abgeschminkt, als Träger von Tafeln auf. “Hier – findest – Du – Deine – Ruhe” heisst es auf ihnen, während die Cellosuiten immer agiler werden. Oder sie tragen mannshohe Bilder von sich als Tänzern zur Pose gefroren. Die Bilder bleiben da, die leibhaftigen Tänzer treten ab, mit ihnen jede Bewegung. Es sitzt nur noch der Cellist, in der Bühnenmitte, konzentriert: auf die letzte und intensivste Suite.
Nur ein Tänzer wie Schloemer, der den Tanz als eine von vielen Kunstgattungen wahrnimmt (und selbst zum Intendanten – des Festspielhauses St. Pölten - entwächst), kann das Tanzen – wie Buddha sich selbst – zurücknehmen, und die Essenz der Existenz in der abstrakteren Kunst, der der Klänge ertönen lassen.
Nur: Warum empfindet man zu Statisten gestutzte Tänzer fade? Warum hinterlässt der Abgang der Tänzer eine Leere? Eine Leere, die das Cello als Soloinstrument bislang nie zu füllen hatte, - weil sie ihm niemand aufriss.

Freitag, 15. August 2008

August '08

erschienen in ensuite Nr. 68 S. 9:

öff.öff.productions
Tanz im Freien ist im Sommer willkommen. Wenn er dann noch den Dächern einer kunstvollen Architektur, dem Paul-Klee-Zentrum in Bern, entlanghangelt und seinen Wellen folgt, und das in der Qualität, die man von Öff.Öff Productions kennt, darf man gespannt sein.
Aufführung: "Ungedüre-n-obedüre", 16./17.Aug. 12h, 14h und 16 h 
Ort: Paul Klee Zentrum Monument im Fruchtland 3, Bern Tel. 031 359 01 01

Marcel Leemann Physical Dance Theater
Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen und der Metapher Nebel bietet Marcel Leemann, den Bern wie Zürich als versierten Tänzer (z.B. in Pablo Venturas “Fabrica” 2005 im Züricher Wasserwerk und zuvor am Stadttheater Bern) kennt. Seine Choreographien sieht man seit zehn Jahren nicht nur schweizweit.
Aufführung: Marcel Leemann Physical Dance Theater "Nebel-LebeN", 29./30. Aug. 20h 
Ort: Kulturhallen Dampfzentrale Marzilistr. 47, Bern Tel. 031 310 04 45

Das Luzern-Festival
Joachim Schlömer, bald Leiter des Festspielhauses St. Pölten begann als – Tänzer. Treu dem Geist der Folkwang Schule in Essen sind seine Choreographien aussagekräftig: Im neuen Stück in schnee ist er vom Thema der Selbstfindung in Thomas Manns Zauberberg inspiriert und lässt auf Bachs Cellosuiten tanzen (Anfang September wird er in seinem Stück neither/nor selbst als Interpret zu sehen sein).
Aufführung: “in schnee”, 15./16. Aug. 20 h
Ort: KKL, Europaplatz 1 Luzern

Forsythe in Zürich
Die Spielzeit des Opernhauses in Zürich öffnet mit Forsythes Artifact aus dem Jahr 1984. Da wenige Ensembles Aufführungsrechte besitzen und wenige Theater Forsythe zur Zusammenarbeit verpflichten konnten, unbedingt profitieren (ein gutes dutzendmal zu sehen diese Spielzeit):
Aufführung: “Artifact” 30. Aug. 19 h, 31. Aug. 20 h
Ort: Opernhaus Zürich, Theaterplatz, Tel. 044 268 66 66

Video im Tanz

Ins Theater kommt Bewegung
“Raum, Form, Farbe und Bewegung” war das abgesteckte Arbeitsgebiet Oskar Schlemmers, Professor der Hochschule für Gestaltung. Seine “Bühnenabteilung” suchte mit den Werkstätten die Möglichkeiten von Bewegung systematisch an der Versuchsbühne des Bauhauses in Dessau zu bestimmen. Er präsentierte 1927 ein Dreischienensystem mit zwei Drehscheiben: “Von einem falschen Gefühl geleitet, versucht man heute jeden technischen Vorgang auf der Bühne ängstlich zu verbergen. Deshalb ist für den modernen Menschen die Bühne von hinten oft das interessantere Schauspiel, zumal im Zeitalter der Technik und der Maschine. – Die meisten Bühnen verfügen über einen technischen Riesenapparat, der ungeheure Energien darstellt, von denen der Zuschauer aber keine Ahnung hat. Das Gebot der Zukunft wäre also, ein den Akteuren ebenbürtiges technisches Personal heranzubilden, das diesen Apparat unverhüllt, ‘an sich’, als Selbstzweck, in seiner eigentümlichen
 neuartigen Schönheit zur Darstellung bringt.” Wenige Jahre später wird er von der NSDAP als Kunstbolschewist diffamiert und unschädlich gemacht, das Bauhaus in Dessau geschlossen. Über vorherige Ausstellungen an der Biennale in Venedig und in New York sowie emigrierende Kollegen sickerten seine Ideen aber ausser Landes. Parallel zu Oskar Schlemmer arbeitete ein weiterer Bauhaus-Künstler an der Nutzung von Technik im Theater: Walter Gropius. Die berühmten sozialengagierten Inszenierungen Erwin Piscators versah er mit Filmen und Projektionen. Im geplanten Totaltheater suchte er die Bühne vollends aus seiner Guckkastenform zu befreien und ihn mit einem Rundhorizont zu versehen. Er wollte “auch den gesamten Zuschauerraum, - Wände und Decken - unter Film setzen […], so dass sich die Zuschauerschaft z.B. mitten im wogenden Meer befindet oder allseitig Menschenmassen auf sie zulaufen.” Zum Bau des Totaltheater kam es im Dritten Reich nicht. Dafür streuten sich die Samen der Bauhaus-Idee nach Amerika, wo sie fruchtbare Kreuzungen eingingen. John Cage unterrichtete zeitweilig an der Bauhaus-Schule in Chicago. ‘Sound-Experiments’ war sein Fachgebiet und seine Hoffnungen setzte er in die
 elektronische Technik. Erinnern wir uns an seine mit Merce Cunningham veranstalteten multimedialen Happenings der 50er. Der Maler Robert Rauschenberg war mit von der Partie und stellte seine weissen Bilder als Projektionsflächen zur Verfügung. 1966 nahmen sie unter der Ägide des Elektronikingenieurs Billy Klüver und seiner Crew an der Reihe “Nine Evenings: Theater and Engineering” teil. Klüver stellte Cage für Variations V photoelektrische Zellen zur Verfügung, welche die Bewegungen der Tänzer Cunninghams registrierten, sobald sie die Lichtschranken passierten. Durch das System ausgelöste Klänge und über verstreute Mikrophonen eingefangene Geräusche bildeten den Klanghintergrund zum Tanz, der von John Cage und Kollegen vor Ort bearbeitet wurde (vgl. a. die Ausstellung hierüber im Museum für Gestaltung Zürich bis 7. Sept., sowie die Aufführung von Cages Variations I-VI in der langen Nacht der Museen). Manipulierte Fernsehbilder und eine Filmsequenz wurden an die Rückwand und Leinwänder projeziert. Sie überlappten einander, wanderten umher und überquerten auch mal d
ie Tänzer. Bewegte Bilder im Tanz: ist die Idee also schon über vierzig Jahre alt?
In den USA schon. Dass die USA in den 60ern und 70ern eine für Technik offene und experimentierfreudige Kunst hervorbrachte, hat neben dem Bauhaus-Einfluss auch mit der positiven amerikanischen Art zu tun, unternehmerische Innovationen aufzugreifen. Klüver konnte bereits 1967 eine interdisziplinäre Forschungsgruppe aufbauen (Experiments in Art and Technology), er rekrutierte zu seinen 30 Mitarbeitern in einem Jahr weitere 3000. Der Erfolg von neueren Technologien in der Kunstszene der USA rührt nach Klüver auch vom fehlenden “intellectual overlay”, der geistigen Bürde seitens europäischer Intellektueller. Ein weiterer Magnet für talentierte Köpfe war das Silicon Valley. Der Beleuchtungsmeister George Coates z.B. schuf bereits mit herkömmlichen Mitteln magische und originelle Bühnenbilder, als die Computerindustrie ihn als Verbündeten für Entwicklung und Absatz ihrer neuen 3D-Graphik-Systeme gewann. 1989 gründete er in 
San Francisco die Wissenschaft einbeziehende Gruppe “Science meets Arts Society”. Über experimentelle Popmusik, von Laurie Anderson etwa, trafen szenische Technologieerkundungen mit der Zeit auch in Europa auf eine breitere Öffentlichkeit. Gleichzeitig begann der amerikanische Regisseur Robert Wilson in Europa zu wirken. Laurie Anderson brachte in ihre Musikstücke, inhaltlich fundiert, die aussergewöhnlichsten Experimente ein und sang schon mal mit Mikrophon im Mund. Robert Wilson dagegen zelebrierte die Effekte von Phänomenen, denen wir in unserer Wahrnehmung unterliegen. Erfinder und Nutzer einer dynamischen Gestalttheorie. Endlich lässt die Kunst auch in Europa sich auf die neueren Wissenschaftszweige ein. 1989 entstand in Karlsruhe das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM). Dort wurde eine Analyse anspruchsvoller Tanzimprovisation auf einer interaktiven CD-Rom erstellt, mit William Forsythe (vgl. Ensuite Nr. 64), - einem Amerikaner. Und gegenwärtig leitet Zürich, das Informatikinstitut der Universität und die ETH, Forschung über künstliche Intelligenz mit Schwerpunkt Bewegung unter Einbeziehung von Künstlern (Artificial Intelligence Laboratory). “Kunst und Technologie: eine Einheit”, ein Leitmotiv des Bauhauses, das nun hundert Jahre währt? Indem die Technik immer aufwendiger wird und Wissenschaftler verlangt, die Wissenschaftler wiederum hö
her angesehen sind, kann die Einheit unausgewogen sein. “Der Künstler wird nicht sehr von gesponsorten Projekten abweichen dürfen, die dem öffentlichen Image und wissenschaftlichen Fortschritt die erhoffte Politur verschafft”, meint Arthur Clay, experimentierfreudiger Medienkünstler und seit fünf Jahren Dozent an der ETH und der Hochschule der Künste in Zürich.

Technologie und Interaktives Theater 
Halten wir uns diesen Kontext, in welchem das Video (über den Vorläufer Film) Einzug in die aufführenden Künste hielt, weiterhin vor Augen. Amerika nannte die Epoche eine "Post-object"-Ära. Die Herstellung von Kunst, der Prozess, löste den Werkbegriff der Kunst ab. Das Experimentieren, welchem Künstler ist das fremd?, wird nun ausgestellt. Wenn Nam June Paik, Videokünstler und Mitarbeiter von John Cage, im besagten Stück Variation V die Fernsehbilder stark verfremdete und die Filmprojektion durch den Raum schickte, dann wurde das Verfahren mehr zur Schau gestellt als der Inhalt. Wenn Merce Cunningham vor den im Raum hochragenden Antennen wiederholt im Sprung hochschnellte und zu Boden sank, dann galt der Augenmerk den Auswirkungen der klangerzeugenden Technologie und nicht der Bedeutung dieser Bewegung. Bei den Happenings sind wir Zeugen des Entstehens, das gern mit a-funktional verwendeter Technik aufwartet. Eine weitere Künstlerin, Yvonne Rainer, Mitbegründerin des experimentellen Judson Dance Theater der 60er, ‘choreographierte’ an einem Abend der erwähnten Nine Evenings live über Walkie-Talkie-Anweisungen. Von hier aus ist es nur ein Schritt, wenn Performance-Künstler wie die Begründer der Companie Troika Ranch seit den 80ern den Tanz in eine interaktive mediatisierte Kunstform überführen. Mark Coniglio, Musiker und selbsterlernter Computer-Programmierer entwickelte Sensoren (MIDI-Dancer), die er der Tänzerin an die Gelenke heftete. Sie sollten, je nach gemessener Winkelgrösse, bestimmte vorgespeicherte Klänge und Geräusche auslösen. 

Entwicklung des Videos
Sobald Ende der 60er Sony-Videokameras zu erschwinglichen Preisen zu haben waren, schlug die Geburtsstunde der Videokunst (zeitgleich in den Händen Andy Warhols und Nam June Paiks). Sie war aber vorerst noch an Videorekorde
r und –Monitor gebunden, so dass sie erst in kleinem Rahmen, den Videoinstallationen etwa, begann. Ab den späten 70ern kamen zwar die ersten Projektoren auf, doch es brauchte noch weitere 20 Jahre, bis die leistungsstarken sogenannten Videobeamer grosse Flächen mit ihren Bildern ausleuchten konnten. Die Entwicklung verschiedenster Software-Programme ermöglichte in den 90ern eine breitere Anwendung des Videos. Sie erlaubten einen externen Zugriff auf die Videoaufzeichnungen. Die Software Interactor z.B. lässt die Steuerung des Videos über Sensoren zu. “Wenn diese mit einem Computer kommunizieren, dann haben sie einen ‘Wandler’, der die reale Welt in Ziffern übersetzt, sodass der Computer sie verstehen kann”, erklärt der Medienkünstler Arthur Clay. Ein gemessener Bewegungswinkel am Gelenk des Tänzers startet die fertige Videoaufzeichnung, ein anderer spult sie zurück, pausiert, verlangsamt oder stoppt sie. Die Gruppe Troika Ranch schuf sich damit die Möglichkeit eines tänzerischen Echtzeit-Zwiegesprächs zwischen einer Tänzerin und ihrer Videoaufzeichnung. Indem das Video Bewegungssequenzen der Tänzerin enthält, die sie auf der Bühne tanzt, simuliert das Video eine Interaktion, nämlich sein Nachahmen der Tänzerin, zumal es leicht verzögert ‘hinterherhinkt’. In Plane nennt sich das Stück und machte die Gruppe berühmt. Es ist Produkt eines Experimentierens, das inhaltlich gestützt ist: Ein Wetteifern zwischen reeller und irreller Existenz, jene an Schwerkraft gebunden, diese ihr – mitten im Sprung verharrend – enthoben.
Die Verwendung von Video profitiert sowohl von der verbesserten Hardware als auch Software und bewegt so heute weiterhin die Bühnen. 

Video auf der Bühne: Neuerung oder Kontinuität?
Das Bedürfnis nach bewegtem Umfeld des Tanzes steht durchaus in einer Tradition. Bauhaus-Erfindungen bo
ten die erste Etappe, das Tanzstück Variations V eine weitere.
Nun leben wir aber Zeiten der beschleunigten Mobilität, und es ist keineswegs einsehbar, warum auf der Tanzbühne der schnellste Gegenstand der Akteur, der Tänzer sein soll. Dies zum einen. Dann begleitet uns eine Technik im Alltag, die zunehmend ihre Mechanik kaschiert, und die Ästhetik des Digitalen trägt. Leuchtanzeigen und Bildschirme lotsen uns durch die Arbeit, Orte und das Heim, pulsierende Bilderflut durchdringt den öffentlichen Raum, wir scheinen überall erreichbar von einem medialen Netz zu sein. Warum sollte das Individuum auf der Bühne in einer heilen Welt verhandelt werden? Dies zum zweiten. Dieses neue Gesicht der Technik, ihre Geschwindigkeit und Ästhetik ist am Aufführungsort gefragt. Dieser wird (möglichst) nicht einfach unsere bildumflutete Umwelt abbilden und ihre Werbeästhetik übernehmen. Der Ort wird mit der neuen Technik die Auseinandersetzung und Versuche der Selbstbestimmung eines Akteurs der Technik gegenüber überhaupt erst ermöglichen. Denn dieses Individuum fühlt sich schon seit langem nicht mehr als Movens und Drahtzieher des Geschehens.

DaMotus / Companie Nicole Seiler 
Das Individuum ist nicht mal Drahtzieher seiner eigenen Handlung. Die Gedanken werden unentwegt im öffentlichen Raum ab- und umgelenkt. Reklame heischen um seinen Blick, Angebote bedrängen sein Gehör. Versprechungen der Zukunft schleichen sich süsslich über Bahnen des Unterbewussten ein. Im Zeitalter des pausenlosen Erwerbs ist das Individuum 
just um den Besitz des ‘Hier und Jetzt’ gebracht. Was kann dies nicht besser ausdrücken als der Schatten, der eigene, der 
einem davonläuft? Dem man hinterherrennt, mit dem man wieder, wenigstens für einen Augenblick, zu
r Deckung kommen möchte? Der Schatten, der letzte treue Garant für das ‘Hier und Jetzt’ ist dem Individuum im Stück ‘Attention!’ der Freiburger Companie DaMotus abhanden gekommen. Welches Medium ist da hilfreicher als das Video, um den eigenen Schatten in Bewegung zu versetzen? Es kann ihn, gestochen scharf, bewegen - nahezu mit Autorität -, so dass das Individuum ihm folgt wie es sonst nur Schatten können. Welche Erniedrigung, wenn der eigene Schatten einem voraus ist. Welche Erkenntnis aber auch, wenn die geschäftig vielen Handlungen dieses Schattens, in die Vielzahl der Standbilder einer Filmsekunde aufgefächert, sich als Fliessbandprodukt entlarven. Ist das Individuum nur ein blasser Schatten des Protagonisten des Abends – des Videoschattens -, ahnt man die Schwachstellen: die individuellen Tänzer werden zeitweise ins Hintertreffen geraten, Live-Bewegung wird sich zunehmend rar machen. Ausgeglichenheit zwischen virtueller und echter Realität ist eine der Herausforderungen, denen sich der heutige (Medien-)Künstler stellen muss. Zeitliches Gespür für die Längen eines nur zweidimensional präsentierbaren Mediums in einem dreidimensionalen Geschehen muss dabei entwickelt werden. Die Schnittstelle zwischen reeller und irreller Welt über den echten, schon immer flachen Schatten des Tänzer, ist dagegen gelungen.
Das Individuum als Teil der Werbewelt und ihrer Ästhetik ist eines von Nicole Seilers unermüdlichen Themen. Die Frau wird oft dargestellt wie eine Barbie oder ruckelt daher wie die virtuellen Videogame-Figuren. Hier wird die Werbeästhetik dick aufgetragen, damit ihr Make-up vor unseren Augen bröckelt. Wir sehen die Frauen daherlaufen, in Mannequin-Posen sich darbieten und – husch rauscht ihnen im Stück “Pixel Babes” ein Label auf den Hintern (Videoprojektion), der wie ein Tattoo haftet. Oder sie aalen und ranken sich am Platz in Posen, auf welche die letzte Kollektion der Haute-Couture gestrahlt wird. Die Projektion wird dadurch belebt, aber auch verzerrt. Die Lausannerin Nicole Seiler hat recht originelle Einfälle, diese Ästhetik zu zerpflücken. Wenn man als Zuschauer aber ohnehin schon von dieser übersättigt ist, läuft sie Gefahr, gegen unsere aufgebauten Abwehrmechanismen anzurennen.

Der Mensch im Raster bei Pablo Ventura
Eine anspruchsvolle Umsetzung aktuellster Technik und ihrer Ästhetik ist Pablo Ventura in Zürich gelungen. Die Videokünstler, Motion-Capture-Informatiker, Graphiker und Lichtkünstler haben minutiös ihre Fachbereiche miteinander abgestimmt. Videoprojektion kann als Beleuchtung verwendet werden und als Raumeinteilung, meint seine bewährte Lichtdesignerin Antje Brückner, umgekehrt kann die Beleuchtung eine Videoprojektion räumlich erscheinen lassen. Die Bilder bewegen sich zum Takt des Tanzes: das Programm Eyecon liest über eine Kamera die Dynamik der Tänzer und ruft aus einer angefertigten ‘Library’ passend Bilder ab. Simultan projeziert, versteht sich. Umgekehrt bewegen sich die Tänzer zum Takt des Metronoms, das ihnen aus dem All in Empfangsgeräte unter dem Trikot zugesandt wird. Und ebenso pulsiert mitunter auch manches Licht. Exaktheit gehört zum digitalen Stil. Der Weg, den die hybriden Mensch-Maschinen-Figuren im Stück “Zone” abschreiten, ist geometrisch, die Eckpunkte ein rechter Winkel. Ihr Gleichschritt erfolgt in einem hohen Muskeltonus, der das menschliche Entspannungsmoment eliminiert hat. Sobald sie aber in Funktionszustand versetzt sind und tanzen, gibt es nur eine Gesamtdynamik: die alle Körperteile gleichmässig erfassende Grundspannung. Aus ihr heraus bewältigt sich jede nur erdenkliche und vom Verstand unerdenkliche Bewegungsfolge und abstruse Pose. Wie von anhaltender Energie gespeist bedarf es nie eines hilfreichen schwunggebenden Ausholens, eines vorbereitenden Atemzugs, oder ökonomisch-koordinierter Extremitäten. Die hybriden Figuren können aus den über das Metronom vergönnten Pausen, den erstarrten Posen, die unlogischsten Folgeschritte ziehen. Dass dies nur mit einem im Hintergrund wirkenden anonymen System funktionieren kann, suggeriert eine projezierte Zielscheibe (im Stück “Madgod”) oder ein Scanner, der die Figuren unvermittelt ins Visier nimmt. - Um wieviel technisch-exakter und unpersönlicher ist ein solcher Videobeamer als ein handgeführter Verfolger! – Sodann unterwirft das System sie einem lückenlosen Raster. Die Tüchtigkeit der Figuren hat sich in ihre Bewegungsästhetik eingefräst, denn immer wieder rasten die Figuren oder ihre Körperteile in den erzielten Posen ein. Manche wippen gar noch ein wenig nach. 
Eine wahre Bewegungsstudie bietet uns Pablo Ventura, wenn am Ende von “Zone” ein – Roboter tanzt. Vor dem Hintergrund der kühl beleuchteten nüchtern tanzenden Truppe ist der einsame in warmes Licht gehüllter Roboter mit ausfahrbarem mehrgelenkigem Riesenarm mal Schwanenhals mal indischer Schlangenarm. Die Bewegungen der Tänzer knicken an den Scharnieren, die diese wohl statt Gelenken besitzen, ein, splittern sich auf und verzweigen sich in ein mechanisches Bewegungsgeäst. Sie kontrastieren dabei mit den organischen des Roboters an der Rampe. Und wer wird es glauben? Beide Bewegungsarten sind am Reissbrett des Computers entstanden! Pablo Ventura ist der Meister, der die virtuell heraufbeschworenen Geister nach seiner Pfeife hat tanzen lassen … 

Fazit
Wenn Tanz Video und Klänge fernsteuert, ist - dank unsichtbarer Kausalität - der optische Effekt kein anderer, als wenn Klänge den Tanz steuerten. Wer wird sehen wollen, dass nicht John Cages schriller Ton Merce Cunningham in die Höhe hat schnellen lassen (sondern umgekehrt)? Um Experimente zu geniessen, müssen wir in ihre Gesetzmässigkeiten und Entdeckungen gebührend eingeweiht sein.
Andererseits, wenn wir im Bann ihrer technischen und konzeptuellen Virtuosität sind, bleibt vielleicht die Ästhetik-Frage auf der Strecke. Mag sein, dass Bewegung wie Töne in Daten aufgefächert und Bildern ebenbürtig digitalisiert werden kann. Mag sein, dass Winkel, (bei Lichtschranken:) Höhe, Geschwindigkeit oder mal Berührung die Daten bildet. Bewegung als Auslöser und Schaltprozess ist eine Entdeckung, aber eine stilbildende?
Potentiell gewiss! Wenn spitze Winkel den Ausschlag geben oder plötzliche Beschleunigung: das Auftauchen überraschender Charakteristika beim Fernsteuern ist ein schöpferischer Fundus – für stil- und formsensible Künstler.
Und was bietet Video für das experimenten- und formmüde Publikum? Inhalte! Doch fern von seinen agitativen Anfängen fordert das Video die Künstler der Post-Postmoderne an seiner Schnittstelle zum Umfeld: Wie integriert sich das Flache samt seiner Inhalte ins Räumliche? Flimmert es vor sich hin wie ein unbeachteter Fernseher oder nehmen die Tänzer auf das Video Bezug? Die Haut als Projektionsfläche, mit der man sich kleidet, oder Deckungsversuche von Schatten waren gelungene Beispiele.
Ganz unschätzbar sind schliesslich die raumstiftenden Eigenschaften des Videos. Dem Platzbedarf der Tänzer musste schon manches Bühnenbild weichen. Dem asketisch leeren Tanzboden und dem alltagsgegenständlich bevölkerten Tanztheater bietet es eine Alternative: Flächen von Bühnen können ins Räumliche überführt, wie das allumspannende Netz Venturas zeigt, Räume zergliedert werden, schattierungsreicher und flexibler als die Bauhaus-Mechanik oder Beleuchtung es je vermochte, - und dynamischer.