Der Tanz löst sich In Schnee auf
Das Lucerne-Festival hat Tanz in eine TanzMusik–Reihe eingebettet, Joachim Schloemer als Artiste Etoile für die Festivalzeit engagiert. In Schnee ist die erste tänzerische Ausbeute, die am 15. August mit den anspruchsvollen sechs Cellosuiten Bachs feilgeboten wurde.
Joachim Schloemers Schneelandschaft ist von jedem Zauber oder Bedrohlichkeit beraubt. Er hat sich zwar von Thomas Manns Zauberberg inspirieren lassen, wo Castorp im Schneesturm Halluzinationen erliegt, doch auf der Bühne gibt es nur aufgestapelte Stühle, unter welchen dieser Schutz sucht. Vor was? Schneegestöber wird in Miniatur in ein Eck projeziert. Wir sind nun im Bilde. Da bietet eine Hütte verlockenden Unterschlupf. Er kehrt ein und erliegt dem Sog einer bunten Gesellschaft. Bunt gestaltet Schloemer Castorps (Daniel Jaber) tänzerische Auseinandersetzung mit jedem einzelnen: Eine Athletin verliert in seinen Armen stets die sportliche Haltung, eine Kokette in Lila kriecht ihm – wo nicht unter die Haut – doch stets in den Mantel, eine blasse Sekretärin erbleicht auf Schritt und Tritt mit ihm im Duett. Der Mann in Rot plustert sich und schmückt sich mit akrobatischen Hip-Hop-Posen und zu ‘Victory’ gespreizten Fingern. Hin und wieder wird der Blick freigegeben auf das Beziehungsgeflecht der Gesellschaft. Doch das filmische Verfahren, das schon Pina Bausch praktizierte, die Montage, setzt den Schnitt in (allzu) Kürze an. (Schnitt hier: Abbruch des Tanzschritts, Lichtwechsel, Teppich verlegt oder eingerollt). Die Personen werden nicht plastisch, ihr Verhältnis wird nicht motiviert.
Nur eine Szene nimmt sich die Zeit, eine Gruppenkonstellation und ihre Atmosphäre tänzerisch zu erwirken. Sie verrät Schloemers choreographische Qualität, der schon seit langem nicht mehr Bewegungen erfindet, wie er im einführenden Künstlergespräch gesteht. Choreographieren verstehe er als kompositorisches Verfahren, er arrangiere geliefertes Material. Seine Tänzer brächten ihre eigene Bewegungssprache und ausreichende Kreativität mit, betont er weiter. Entsprechend ist die Szene gelungen, weil er die sechs eigenständigen Stimmen zu orchestrieren vermag und eine Atmosphäre sich bildet, das cappricioso: Auf einer Stuhlreihe, in der Hütte nebeneinandergereiht, sitzt und liegt die bunte Gesellschaft. Sie fallen sich in den Schoss, rollen aneinander ab und katapultieren sich wieder zurück auf die Sitze. Castorp fühlt sich von der Truppe angezogen, prallt aber an der Phalanx ab, wird von Schössen abgewälzt oder samt Stuhl weggekippt. Flinke Frauen fliegen ihm um die Ohren, springen im grand jeté über seine Lehne, direkt einem Glücklichen in die Arme. Castorps Schulter dient da nur zum Abstoss, - und er sackt zusammen, wie nach jeder Phrase dieser Szene.
Tänzerisch wäre noch das synchrone Duett von Clint Lutes und Maria Pires hervorzuheben, das stilistisch vom modern dance abgeleitet so kohärent und rein, doch so unvermittelt auftaucht wie eine virtuose Einlage. Oder eben eine Halluzination.
Aufblitzende Halluziniationen, nur durch das Baugerüst der Hütte zusammengehalten, erlangen nicht die Kraft, die mitreisst. Castorp soll bei diesem tiefen existentiellen Erlebnis sich selbst gefunden haben. Wir werden davon nicht mal Zeuge.
Musik im Zentrum einer Leere
Im zweiten Teil, dem “philosophischen”, wie Schloemer ihn nennt, rückt die Musik zunehmend in den Mittelpunkt. Anfangs sitzt der Cellist noch abseits neben Castorp, der in Erinnerungen schwelgt. Bizarre gefilmte Schneeauftürmungen und Verführungsgesten der Hüttenbewohner flimmern vor seinen Augen und den unseren. An der Bühnenrückwand lehnen zwei schlanke, hohe Projektionsflächen. Sie überlappen sich, dazwischen lugt ab und an ‘ne Hand, am Rand ein Arabesque-Bein, am anderen drei Köpfe hervor - keine zündend neue Idee. Doch die Präsenz der Tänzer macht sich rar und rarer. Alsbald treten sie nur noch, abgeschminkt, als Träger von Tafeln auf. “Hier – findest – Du – Deine – Ruhe” heisst es auf ihnen, während die Cellosuiten immer agiler werden. Oder sie tragen mannshohe Bilder von sich als Tänzern zur Pose gefroren. Die Bilder bleiben da, die leibhaftigen Tänzer treten ab, mit ihnen jede Bewegung. Es sitzt nur noch der Cellist, in der Bühnenmitte, konzentriert: auf die letzte und intensivste Suite.
Nur ein Tänzer wie Schloemer, der den Tanz als eine von vielen Kunstgattungen wahrnimmt (und selbst zum Intendanten – des Festspielhauses St. Pölten - entwächst), kann das Tanzen – wie Buddha sich selbst – zurücknehmen, und die Essenz der Existenz in der abstrakteren Kunst, der der Klänge ertönen lassen.
Nur: Warum empfindet man zu Statisten gestutzte Tänzer fade? Warum hinterlässt der Abgang der Tänzer eine Leere? Eine Leere, die das Cello als Soloinstrument bislang nie zu füllen hatte, - weil sie ihm niemand aufriss.
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