Montag, 15. September 2008

Streetdance

erschienen in ensuite Nr. 69, S. 12-15 :

I. Capoeira
“Ka-puera” heisst auf Tupí, der Sprache vor der portugiesischen Kolonisationszeit, Brachland mi hohem Gras. Doch deshalb wird nicht von einem Feldtanz die Rede sein. Denn ka-puera grenzte am Stadtrand Rio de Janeiros z.B., wo sich die eingeschifften Sklaven, die Plantagenbebauer, ihren marginalen Freiraum ertanzten. Der Kampftanz Capoeira hat zwar Vorläufer sowohl in der afrikanischen Kultur als auch der indianischen aus der Region, aber seine Eigenart entwickelte er unter den Kolonialherren. Den ganzen Tag von den Plantagenbesitzern drangsaliert, kehrten sie gern in den Kreis der Ihren ein, der wie im Candomblé Kult, ihrer Religion, sich mit einer Huldigung vor den Musikinstrumenten einstimmt. Berimbau, ein Saiteninstrument mit kürbisartigem Klangkörper gibt den Rhythmus vor. “Es gibt dem Capoeirista die Konzentration, die richtige Einstellung; ohne dem geht’s nicht”, meint Mestre Jairo in Bahia, wo er heute noch in den Strassen der Favelas lehrt. Das Fell der Seiltrommel Atabaque wird wie zum Empfang des Segens vom Tänzer berührt, und er betritt die Manege – kopfunter. Mit einem Radschlag begibt er sich in die Kreismitte, der Roda, wo alsbald ein zweiter sich dazugesellt: auch er berührt die Trommel und ein eigenartiger Dialog beginnt. Dem Martelo(Hammer)-Angriffstritt entspricht ein duckender Ausweichschritt und ein konternder Gegenschlag. Ein Scheinkampf entsteht, der ohne Berührung auskommt. Wie im Reigen löst ein neuer Tänzer per Handschlag den ersten ab, der sich in die Runde der
Umstehenden einreiht. Der Mestre am Berimbau singt vor, sie wiederholen den Refrain, ihr synkopiertes Klatschen hält das Geschehen wie eine akustische Klammer beisammen. Aus der Ginga, dem tiefen und stabilen Grundschritt, der nach beiden Seiten wiederholt werden kann, preschen die halsbrecherischen Sprünge, aber auch die peitschenden Beine hervor. Genau im Takt der Musik ausgeführt lässt Ginga den Partner berechnen, wann und woher die nächste Gefahr einbricht. Im ursprünglichen Capoeira Angola entweichen dem geduckten Schritt gern auch mal Täuschungsmanöver. “Malícia”, auf deutsch Schläue und Kriegslist, ist ein Wesenszug des Capoeira. Ein Straucheln wird da zum strategischen Schritt. Die Ambivalenz des Capoeira entsprach der Strategie der Konfliktbewältigung brasilianischer Sklaven: Ob Kampfübungen für den Widerstand, Kulttanz oder Strassenspiel, die Kolonialherren konnten es nicht entscheiden. So wurde sie von Machtgierigen mal verboten, mal instrumentalisiert. Heute
hat Capoeira eine Akademie, eine Rangordnung, weltweit Anhänger und wird seit Jahren in Frankreich gar an öffentlichen Schulen gelehrt.

II. Breakdance

Tanz erschafft seinen Musikstil
Was macht ein begnadeter Disk-Jockey, wenn Tanzwillige auf Partys rumhängen bis wieder geile Rhythmen aufkommen? Er nimmt diese Rhythmen und nimmt sie mal zwei. Zwei Plattenteller, zwei gleiche Platten und ein Verstärker waren die Instrumente Kool DJ Hercs aus der Bronx der 70er, um Tanzrhythmen am Leben zu erhalten. Kaum verklang der letzte fiebernde Beat des einen Vinyl, kurvte die Nadel schon auf der anderen. Der DJ rettet den Drive hinüber, indem er abflauende Songenden (und zögerliche Anfänge) kurzerhand übersprang. Meist waren es Schlagzeugsolos (Breaks), die drängten und sich entluden, welche so in mehreren Schleifen (Loops) wiederholt wurden. Diese bildeten den Grundbeat für den Hip Hop.
Den Beat begehrte also der Tanz. Die Breaks des DJ lieferten ihn. Die Lücken, die im Spagat zwischen zwei Plattentellern entstanden, steigerten nur die Spannung zur ersehnten Wiederholung. Und diese füllten die tanzenden B-Boys (und Girls) mit manch humorvollem Ausfall. Ein solcher Bodenfall brachte dem entstehenden Tanzstil den ersten Bodenkontakt, den sie nie mehr scheute, besagt eine Legende. Sonst tanzte man in der Bronx noch aufrecht: Variationen auf Lindy Hop bzw. Jitterbug (was Zappelphilipp bedeutet), Steptanz, Afro-kubanischen Tanz und Charleston. Der Beat des 4/4 Takts frass sich aber durch alles hindurch und der DJ heizte mit dem Mikro ein. Er skandierte Kurzreime wie aus Jamaica gewohnt (Toasts) - und schon war der Rap geboren.
Ein anderer liess gar die Platten tanzen: vor-rück, vor-rück, um den Übergang der Breaks noch in sich zu rhythmisieren. Seit 1975 bremsten und beschleunigten so DJ Grandmaster Flashs Finger die Platten, oder “scratchten” (kratzten) sie, denn der Puls des Beat durchzuckte alles. Die Tänzer ‘breakten’, wenn sie tanzten. Und zunehmend gen Boden. Bei so viel Animation wurde man kreativ. Im Bronx der fehdenden Banden und aufgestauten Energien kamen die Einfälle mit vollem Körpereinsatz. Die Stimmung war heiss, doch heisser noch auf den Strassen. Jedes Viertel der Bronx hatte seine Gang, jedes Fest unterlag deren Kontrolle. Afrika Bambaataa war Bandenführer der berüchtigten Gang Black Spades, als er Kool Herc 1975 erstmals hörte. Zwei Jahre drauf besorgte er sich sein eigenes Soundsystem und übernahm Hercs Stil. Seine Gang erlag dem Hip-Hop-Bann. Und mehr: der gewaltfreien Bewegung Zulu Nation.

Breakdance: gebändigte oder gebündelte Gewalt?
Afrika Bambaataa wurde in seiner Kindheit von den turbulenten Jahren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 60er geprägt. Stolze schwarz-nationalistische Töne hörte er ebenso wie die der bekennenden Black Muslims am Familientisch. Doch die ausgewogene Vielfalt der Plattensammlung seiner Mutter von Myriam Makeba, Mighty Sparrow, James Brown bis Sly Stones integrationistischem Lied “everyday people” formten ihn weiter. So fliessen in seine Mitte der 70er gegründete Zulu Nation-Bewegung Religionen und Völker versöhnende Ideen ein. Er mobilisiert aber auch, ganz aufklärerisch, für hinterfragte Wahrheit – mit einer Prise Esoterik. Sein Motto positiv & engagiert forderte erstmal ganz konkret: Drogen-, Alkohol- und Gewaltverzicht. Afrika Bambaataa ist mit der Gründung dieser Bewegung wohl der spirituelle Vater des Hip-Hop. Er synkopierte als DJ die begehrten Breaks gern mal mit den eingespielten Reden des schwarzen Bürgerrechtlers Malcolm X. Tagsüber stellte er die Lautsprecher ins Fenster, damit die Strassenkinder von der Magie der Black Power Musik getrieben wurden - weg aus den Fängen der Gangs. Wenn aber wegen seiner Flugblätter mit Aufruf zum Drogenverzicht die (oft weissen) Dealer-Gangs aus Harlem zu seinem Fest anrückten, so brachen seine B-Boys wohl zur Not auch mal ein Genick.
Tatsächlich hatte jedes Viertel seinen DJ, seine Breakdancers (B-Boys). Doch seit Afrika Bambataas pazifistischen und antirassistischen Aufrufe, konnten diese Jungs Geländegrenzen übertreten, Nachbarsviertel aufsuchen, sich der Musik nähern und in ihren Kreis begeben. In der Manege rieben sie den Umstehenden die neuesten Tricks unter die Nase. In den Höfen und Treppenhäusern wurde geübt, damit die Replik am nächsten Tag sass. Jazzy Jay, ein B-Boy dieser Zeit erzählt in Jeff Changs Buch über Hip Hop, wie sie die Glassplitter sich dabei aus den Händen zogen. “Wir nannten das Kriegswunden” berichtet da ein anderer, “Du kümmerst Dich ´n Dreck drum, sonst bringt´s nix zu breaken”. Und ein weiterer: “Und sehr aggressiv, wirklich aggressiv, so dass ich anfangs dachte, es sei ein Gang-Tanz”. Fordert eine Gruppe eine andere im Breaken heraus – denn ohne Gruppen-Strukturen geht’s nun doch nicht -, nennt man es heute noch ‘battlen’. In der Bronx wurde gebreakt statt getanzt, um die Spannung abzuladen, Kraft zu demonstrieren, den Mehrwert des Körperkapitals im rohen Wettbewerb der Strasse kundzutun. (Und dieser akrobatische Mehrwert war zu steigern…) Matteo aus der legendären Rock Steady Crew beschreibt die Anfänge: “Die Gangs, die sich um ein Gelände stritten, organisierten ein Treffen, die beiden Kriegsführer ‘battleten’, und der Sieger des Tanzes bestimmte, wo der Kampf dann ausgetragen werden sollte” – denn nicht alle Gangs waren von Bambaataa zu bekehren.

Mit Stil
Trotz aller Aggression, die die Jugend des Armenviertels umhertrug, war es der Beat der Lebensfreude der in ihnen pulsierte und die verspieltesten Blüten trieb. Fundamental für das Breaken ist, sich dem Puls ganz zu ergeben: “you have to ride the beat”, meint Ken Swift der Pionier aus der Bronx. Deshalb geht der Toprock, Schritte im Stand zum Takt oder synkopiert, jedem Breaken voraus. Zum einen ist die Fussarbeit im Toprock, aber auch der Stil des Oberkörpers, welche die unverwechselbare Signatur des einzelnen B-Boys verraten. Das Popping z.B. ist ein Stil, der roboterhaft daherkommt, aber gerne sich zu einem fliessenden Vorwärtsbewegen kontrastiert, dessen Gewichtsverlagerung nicht auszumachen ist (der berühmt gewordene Moonwalk entwickelte sich von hier). Oder von einer alle Gelenke überflutende Körperwelle erfasst wird. Man kann auch ohne weiteres von einer Comic-Figur-Pose in die nächste springen und verharren, lehren die Meister. Je überraschender der Einfall, desto willkommener. Das Locking wiederum ist ein Stil, der gern mit weissen Handschuhen vorgetragen wurde, und wie eine gelungene Kreuzung zwischen Hampelmann und Verkehrspolizist erscheint. Die in alle Lüfte deutenden weissen Zeigefinger rühren der Legende nach aus der Zeit des Vietnam-Kriegs: Onkel Sam habe so auf Plakaten rekrutiert: “I want you!” Zum anderen präparieren die Schritte im Stand den Gang zum Boden, und der Beat dabei ist wie die Zündkerze am Motor, die richtig portionierte Energieentladungen für die Spirale abwärts zum Asphalt.

Breakdance-Welle
Ende der 70er sickerte der Breakdance in Downtown Manhatten ein. Vereinzelte B-Boys verschlug es nach Manhatten, wo sie, voneinander nichts wissend, durch Strassen zogen und sich aufspürten. Die so Rekrutierten trainierten, zogen sich Filme rein und wölbten und überschlugen sich bald auch mal nach Kung-Fu-Manier. Alt-Hippies, Künstlerrebellen, Aussteiger und Ex-Fans des Schwarzen Jazz aus New York City erkannten die Revolte und das Authentische der Bewegung, Hip Hop (der Name existierte noch nicht) eroberte die Clubs, - und die Kunstszene: Künstler auf der Spur der “radikalen Avantgarde”, wie sie meinten, dokumentierten den urbanen Stil im Film Style Wars oder im Handlungsfilm Wild Style. Die amerikanische Presse und Unterhaltungsindustrie folgte ihnen auf dem Fuss und stürzte sich auf die bizarren Früchte, die dem Asphalt entwachsen sind. Wobei mit Platten eindeutig mehr auf dem Markt zu holen war, weshalb der Tanz auch ins Hintertreffen geriet. Der Dokumentarfilm Style Wars filmte als erster den Strassentanz. Ein Jugendlicher namens Crazy Legs begibt sich dort auf alle Viere, über den Sixstep lässt er seine Beine in einem Radius wie eine Uhr um die Achse rennen. Sie hüpfen und überspringen sich dabei, als ob Stunden- und Minutenzeiger den Sekundenzeiger überholen wollten. Die aufgestützten Arme, der stabilisierende Mittelpunkt, müssen immer wieder die rhotierenden Beine übersteigen. Der Kreisbewegung lässt sich wie dem Wirbel ein Schwung entlocken. Der sich rücklings bei gleitenden Flächen im Backspin (Rückenpirouette) entlädt. Das sieht dann aus wie ein Käfer auf dem Panzer mit Drall. Albernheiten scheuten die B-Boys nie. Spass war das Ziel, und so nannten sie eine Endpose dieser Rückendrehung auch mal Baby-Freeze. Klar, ein gefrorenes Embryo. Dann erklärt er, wie er statt der Endpose mal einfach weiterdrehte. Und da ein Strudel neben der Zentrifugalkraft auch einen senkrechten Sog entwickelt, so kann die Kraft des Backspins bei genügend Schwung zwar nicht in die Tiefe, aber in die Höhe entweichen. Über die Schulter und unterstützt von den Unterarmen hievt der Junge sich kurzerhand in den Kopfstand. Style Wars wurde 1982 auf New Yorker Fernsehsendern ausgesstrahlt. Da sie nebst diesen Strassenkindern auch von Graffiti-Sprayern so sympathisch kündete, blieb diese erste Ausstrahlung in New York auch die letzte. Die Jagd auf die Sprüher wurde des Bürgermeisters Ehrensache. Dafür wurde man in Europa empfänglich. Anfang 1984 sendete das deutschsprachige Fernsehen Style Wars, was zur Einladung der betroffenen B-Boys Dynamic Rockers führte - ins Aktuelle Sportstudio. Denn zur Kunst gekürt war Breakdance noch lange nicht. Filme wie Wild Style oder Beat Style wurden zu Kultfilmen, besonders im Osten, wo der Nachrichtendienst nach anfänglicher Skepsis bald die Kapitalismuskritik des Ghettos roch und ihrer Arbeiterklasse schmackhaft machte. Manche B-Boys dort zehrten ein Dutzend mal, nährten die mitzuckenden Beine und sprachen dazu die Reime. Eine wahre Welle erfasste Europa.

Eins neun acht drei (1983)/
seit dem bin ich dabei/
früher war Breakdance mehr als Poserei/
damals noch in Strassen zu sehen/
B-Girls & Boys die gaben zu verstehen/
jetzt wird sich’s nur um`s Tanzen drehn!

So skandiert Storm, der grosse deutsche Breaker der ersten Generation, rückblickend.
Noch ein Jahr früher, bevor das erste bewegte Bild aus Übersee eintraf, hatte sich in Zürich eine kleine Szene gebildet, als die lokale Tanzschule Jazzeria in New York ein Wettbewerb ausschrieb und der erste Preis die Lehrtätigkeit an der Jazzeria war.
In Frankreich starte Hip Hop erst auf Radio7, 1984 schlug die Reihe Hip Hop auf TF1 mit den Paris City Breakeurs Tanzgruppe ein und in den Banlieus fieberte man den Rhythmus. Ähnlich in den englischen Arbeiterstädten Nottingham und Manchester oder dem ehemaligen Sklavenumschlagsplatz Bristol. Doch als Breakdance in England die High Society in der Royal Variety Show unterhielt, in Deutschland die Chips kauenden Fernsehzuschauer in “Breakdance - mach mit, bleib fit” anregen sollte, ist die Welle übergeschwappt und entliess die B-Boys wieder in den Untergrund. Das Interesse flaute ab, Breakdance hatte medial ausgedient. Die Pariser B-Boys wurden 1985 in der Metro gefragt, ob sie denn gerade dem Museum entkamen. Viele gaben hier auf. Die Hartgesottenen übten aber unbeirrt weiter, durchquerten Länder (das Tramperticket kam auf), um auf kaum angekündeten Jams aufzukreuzen. Die Gesichter kannte man langsam, die frisch erfundenen Tricks aber noch nicht. Die Stimmung war cool, und man tauschte die letzten Erfindungen aus. Klauen gilt nicht, man tanzte hier sowieso um Respekt und Ruf.

Breakdance heute
Seit in den 90ern die Jams sich zunehmender Beliebtheit erfreuen und zu Battle-of-the-Year oder Wettbewerbe auswuchsen, geht es nur noch um’s Gewinnen oder Verlieren. Die Zuschauer sind hinter Videokameras verschanzt und statt zuckender Beine geht nur ihr Daumen hoch oder runter. Hier ist der Zeitpunkt, sich der Zwischenschritte und ihres “Flavours” wieder zu entsinnen, meint der altgesottene Breaker Storm (und mehrfacher (Welt)Meister): “Auf den Tanzmeisterschaften kann man mit den übelsten Schritten perfekt auf die Breaks kommen und keiner registriert es. Dann kommt einer mit einer Powermove-Combo und der Saal tobt”/1/. Das ist also die Kritik der Old-School-Favoriten an die New-School-Anhänger: Die Old-School-Werte sind verraten! Gewinnsucht statt Stil. Der Hip Hop der Zulu-Nation-Ideale mit dem gemeinschaftlichen und positiven Denken sei durch den Kommerz verkommen. Massenverträglich und gewaltverliebt wie der Gangsta-Rap, voll “bling-bling!” und goldkettenumhangen verderbe die New-School auf den Videoclips unsere Jugend.
Und wenn da was dran wär’? Es liegt an der Hip-Hop-Generation von heute die Video-Clips-Ethik und -Ästhetik Lügen zu strafen.
Capoeira und Breakdance: Die Strasse als (Tanz)raum für Arme und spontaner Versammlungsort machte den Tanz gesellig, aber auch wehrhaft, ein Zufall?

/1/ Niels Robitzky, Von Swipe zu Storm . Breakdance in Deutschland,2000, S. 118

September 2008

erschienen in  ensuite Nr. 69 S.15 :
Festival la Batie
I. Thomas Hauert hat an der Seite von Anne Terese de Keersmaeker getanzt und unterrichtet an der prestigeträchtigen zeitgenössischen Schule P.A.R.T.S. Doch wenn er Ha Mais in seiner Heimat zeigt, dann hat er sich dafür Naturtalente aus Mosambique ausgesucht, wo die Strassen noch fürs Tanzen geschaffen sind. Zusammen mit einem Choreographen aus Maputo werden sie uns eine Hymne auf die Bewegung tanzen. In Akkords dagegen feiert er die hohe Gabe der Gruppenimprovisation, die sich zudem noch so von der Musik steuern lässt, als sei sie ein vorfabrizierter Tanz, brav an der Partitur entlanggeschrieben. Eine Falle?
Datum: Ha Mais: 1. Sept. 21 Uhr
Accords: 3. Sept 19 Uhr, 4. Sept. 21 Uhr
Aufführungsort: ADC/Salle des Eaux-Vives Rue des Eaux-Vives 82/84 Tel. 022 320 06 06


II.Wer durch Video im Tanz (ensuite Nr. 68) auf fernsteuernde Beine neugierig wurde und kritisch über den künstlerischen Output von Software im Tanz, der soll Home der Cie Dysleptique testen oder das interaktive Stück De deux points de vue der Companie Lorraine:
Datum: Home: 8., 9. Sept. 19 Uhr, 10 Sept., 12:30 Uhr und 20:00 Uhr
Aufführungsort: ADC/Salle des Eaux-Vives Rue des Eaux-Vives 82/84 Tel. 022 320 06 06
Datum: De deux points de vue: 6. Sept. 20:30 Uhr
Aufführungsort: Château Rouge/Annemasse Route de Bonneville 1 Tel. 0033 450 43 24 24


Tänzer weihen Weltkulturerbe ein
Das Landwassserviadukt bei Filisur mit einem “Brückenspektakel” ein. Gibt es etwas in den Lüften zu betanzen, da fühlen sich die ÖffÖff Productions aus Bern gefordert.
Datum: 13., 14. Sept.
Aufführungsort: Filisur in Graubünden

Tanzhaus Zürich
Mit Achtung, fertig, los! pflegt das Tanzhaus seine Bindung zu Choreographen, deren Sprungbrett es war und bietet Einblick in Produktionen der Saison.
Festival vom 5.-12. Sept. www.tanzhaus-zuerich.ch

Dampfzentrale Bern
Emma Murray, bis vor kurzem Tänzerin am Stadttheater Bern startet ihre eigene Künstlerlaufbahn. Ein spannender Moment, dessen die Berner Zeugen werden können, zumal sie die Angst vor der eigenen Courage künstlerisch umsetzt.
Datum: 6., Sept 20 Uhr, 7. Sept. 19 Uhr
Aufführungsort: Marzilistr. 47 Tel. 031 310 04 45

Samstag, 13. September 2008

Wayne McGregor


Interferenz im Tanz

Wayne McGregor versteht digitale Technologie nicht als ein modisches Gagdet des Tanzes. Bei einem interdisziplinären Workshop im deutschen NRW (2001) stellte er die Softwarenutzung vor und meinte zu deren Relevanz: "Der Einsatz von Technologie wird nur dann fruchtbar sein und neue ästhetische Dimensionen erschliessen, wenn man einer Idee nachgeht, die sich nur mit Hilfe eines technologischen Mediums realisieren lässt.” Und bei Entity: a diptych trieb ihn die Idee, ein wirklich fremdartiges Wesen darzustellen. Die auftauchenden Wesen haben Körper, die sich mal animalisch, mal roboterhaft gebärden oder mal neuronal (fehl)gesteuert. Da zuckt sekundenlang ein Kinn zurück, als ob sein Besitzer unter Strom stünde. Da stakst mit überstreckten Beinen mechanisch ein Wesen über die Bühne. Ein andermal entreissen sich die Extremitäten der Herrschaft des Oberkörpers als ob sie den Freudentanz ihrer gewonnenen Autonomie feierten. Dies alles wechselt so unversehens, wie die Beleuchtung von warmen Abendsonnentönen in gleissendes Neonlicht. Es gibt hier nichts zu verstehen, das Fremdartige fasziniert als solches. Und dankbarer Weise so vielfältig, als ob diese Entität (Entity) zu unserem Amüsement von einem anderen Planeten direkt auf die Bühnen des Lyoner Festivals 2008 als Special Guest gelandet sei. Nur: Ist nicht bei der Landung seine Software zerrüttet worden? Hat nicht die Klassik-Software mit ihren wunderbar geometrischen Gebilden mit der Software neuronaler Analysen der Gehirnarbeit bei Bewegungsabläufen (und vielleicht ihrer Manipulierbarkeit) interferiert? Wie kann sonst neuronale Disfunktion und spastische Verzerrungen mit den Versatzstücken des Balletts einhergehen? Wie sonst kann die Bewegungsdynamik so unbarmherzig fehlschlagen? Die Tänzerinnen werden beim Partnern gequetscht, umgerissen, die Arme klatschen auf die (Körper)Oberflächen, als ob Partnern nicht aus der vornehmen Zeit des Hofes herrührte. Kein Wunder, entwindet sie sich davonschlängelnd, - mit dem Kopf voran. Oder wurde das ausserirdische Programm nach der Landung von einem Virus befallen? Wie mögen sonst die funktionalen Körperpartien in afunktionale Zusammenhänge treten: Ein Ohr am Ellebogen, eine platt gedrückte Nase? Das wahrlich überraschendste ist aber dann, dass eine solche Haltung Emotion konnotiert. Nur konnotiert, ohne von ihr hervorgerufen oder bedingt zu sein. Sie liefern uns emotionale Splitter, ohne zu einem psychologischen oder dramaturgischen Programm zu gehören. Der Aufbau der konventionellen Musikform, des Streichquartetts (vom englischen Zeitgenossen Joby Talbot), in kontrastierenden Dynamiksätzen scheint das einzige dramaturgische Gerüst zu sein, das das Stück zusammenhält und charakteristische Atmosphäre verbreitet. Wenn daraufhin elektronische Musik (Jon Hopkins) mit einer Endlosschlaufe von Bassdrum-Schlägen, ätherischen Tönen, Gesäusel und süsslichen hohen Klavierklängen eine Projektionsabfolge von geometrischen Beweisen, Skizzen oder mikrobiologische Strukturen begleiten, fragt man sich doch, ob das nicht zu billige Animationen für ein Gepäck aus dem Weltall sind.

Freitag, 5. September 2008

Arte-Spezialprogramm


Der Donnerstag 11. September ist unbedingt zu reservieren: Arte bietet ein vielseitiges Programm von 13 Uhr bis Mitternacht.

Darunter findet man namhafte Choreographen wie Forsyhte, Cunningham (Pond way 16.50 Uhr) und Pina Bausch (Orpheus und Eurydike 15 Uhr vgl. meine Besprechung), aber auch Vertreter der stilistischen Cross-over-Experimente aus Brasilien (Companie Käfig und Companhia Urbana de Danca 21 Uhr).

One Flat Thing Reproduced
von William Forsythe

Mit dem flachen Ding, soviel soll verraten sein, meint William Forsythe – seine Titel waren nicht selten Understatements – den Tisch. Der Tisch scheint, wie übrigens auch der Stuhl, grosse Choreographen seit eh her gefor
dert zu haben. Kurt Joos` grünfarbener erhielt beim Pariser Choreographenwettbewerb damals den 1. Preis, in den 90ern tanzten fünf Alias-Tänzer atemberaubend um einen schwarzen herum. Während Alexander Ekman in der Jooss-Cullberg-Folge den Tisch samt Gentlemen verdreifacht, bietet Forsythe ihn uns als Produkt des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit um ein vielfaches gehäuft. Herausfordernd ist ein Tisch für Choreographen nicht als Element des Bühnenbilds, noch als verführerischer Gegenstand, Tänzer im Alltagsgebaren und Innerlichkeit um sich zu scharen. Fordernd ist das flache Ding für den Tanz und seiner Bewegung, wenn es als Platte einem den eukinetischen Raum (um den menschlichen Körper herum) zweiteilt. Wie sehen Bewegungen aus, wenn ihr Bewegungsraum halbiert ist? Wenn die horizontale Fläche druckempfänglich ist? Indem Forsythe in Improvisational Technologies solche Flächen und Kanten schon imaginierte, ist es in diesem Stück auch ein grossartiger Effekt, wenn ein Tänzer seine Abfolgen an fiktiven Ebenen abarbeitet und sie plötzlich auf eine reale Platte hievt.Thierry de Mey ist ein Choreograph der Musik (man kennt z.B. seine Tafelmusik 1987, ein Augenschmaus) und seit dem Film Rosas tanzt Rosas (1997) ein Choreograph der Bilder. Nichts liegt näher als ihn zu Tisch zu bitten, wenn Forsythe seine Kantenanalysen aus überraschenden Winkeln gut rhythmisiert einfangen möchte.
TV-Regie: Thierry de Mey, Musik: Thom Willems, Arte-France Frankreich 2006, 26 Min.Arte 11. Sept. 2008 17.15 Uhr
3. Okt 2010 9.45 Uhr


Entity: a diptych von Wayne McGregor
Nein, die Arbeit mit dem Software habe nicht seinen Tanzstil beeinflusst. Die rühre eher von Club-Tänzen, meinte Wayne McGregor noch 2002. Aber in Entity, seinem jüngsten Werk will er eine uns sehr “externe” Identität präsentieren, mit einer ganz eigenen Syntax. Und dazu ist ihm jede Technologie recht und begibt sich ins Labor: die High-Tech-Bedingungen setzte er sich mit kalifornischen Kognititionswissenschaftlern. Auf das Laborergebnis darf man gespannt sein. Eins ist sicher, die Limon-Schwünge seiner Schulzeit sind seziert, wenn nicht genetisch verändert…
Wayne McGregor, kaum 28 Jahre alt, hat seit 6 Jahren seine eigene Companie (Random Dance), welche im erweiterten Sadler´s Wells in London seit 2002 beheimatet ist. Preisverwöhnt zog McGregor gar als erster fester Choreograph aus der zeitgenössischen Tanzszene in das Royal Ballet. Entity: a diptych tourt z.Zt. in Lyon, wo es von Arte für uns übertragen wird.
Arte, 11. September 2008 21.50 Uhr

AGWA von Mourad Merzouki und Sonia Destri

Wer möchte nicht den frechen Tanz von der Strasse auf die Bühne holen? Noch bevor er auf Wettbewerben und Showdowns zum Sport verkommt. Willkommen seien also die brasilianische Companhia Urbana de Dança und die französische Käfig im Rahmen des Tanzprogramms von Arte.
Käfig schaffte schon seit einem Jahrzehnt Capoeira- und Breakdance-Elemente in ein überzeugendes künstlerisches Konzept zu betten. Nuancen und poetische Bilder gehen nicht durch Akrobatik unter. Wenn die rasanten Burschen tanztrunken einhalten, berühren ihre stillen Gesten und Posen umsomehr.
Nun taten sich Anfang des Jahres beide Companien in Rio für das Stück AGWA zusammen. Mourad Merzouki, Leiter von Käfig, und die unverbrauchte Jugend der Favelas (gezügelt unter Sonia Destri) stürmt nun dieser Tage Lyon. Von der Probezeit in Rio berichtet Merzouki 18.05 Uhr (40min).
Für Merzouki ist es nicht das erste Mal auf der Biennale. 1994 hatte sein Hip-Hop-Stück Athina einen grossen Erfolg und er tourte damit in den Flüchtlingslagern Kroatiens während des Krieges. Der Tanz als Funke, der ‘rübersprang, erinnert er sich.
Arte, 11.September 2008, 21.00 Uhr, 50min.

Montag, 1. September 2008

Artifact in Zürich


Gewaltiges Artifact

Der Vorhang rast rauf und runter, das Licht kommt von oben wie die Guillotine, dann von der Seite wie ein Skalpel. Die Pianistin stampft Akkorde in die Tasten und Forsythe bombardiert mit Ballettposen-Salven, gestochen scharf und schmerzhaft. Dass klassisches Ballett so gewalttätig wirken kann, - ist ein Hohn für die Zeitgenossen im Tanz, die uns für die Brutalität der Gegenwart die Augen aufreissen wollen. Wie sollen nicht ausholende Arme, rhotiert wie ein Diskus, gestreckte Beine ins Battement geschlagen und eingefroren die Wut einer Beat-Generation rausschreien? Drei Dutzend Züricher Tänzer, militärisch mehrfach gereiht, reissen von Moment zu Moment ihre hingeschmetterten Ballettfiguren wieder ein. Das perkussive Finale drängt nach einer Erlösung: drei Dutzend treten an den Bühnenrand, - nur ihr Abgang bietet sie.
Artifact, Forsythes erstes abendfüllende Ballett in Frankfurt aus dem Jahre 1984, hatte am 30. August 2008 im Züricher Opernhaus seine Schweizer Premiere. Seinem überaus minutiösen musikalischen und technischen Anspruch gewachsen, ist die Züricher Companie die zweite weltweit, die sich das komplette Stück angeeignet hat.
Das Stück ist ein Frühwerk von William Forsythe, das sich noch in weiten Zügen auf das neoklassische Vokabular stützt. Noch ist kaum absehbar, dass der Meister in wenigen Jahren Bewegungen aufbrechen, Bezüge zwischen den Körperteilen neu erfinden wird und der orientierende Blick des Tänzers wie ein nebensächliches Detail verloren gehen wird (The Loss of a Small Detail). Noch keine Spur von über digitale Zeitangaben koordinierten Live-Improvisationen. Forsythe ist hier in der Phase der Ballett-Zersetzung: Das Vokabular der Neoklassik wird pietätslos aus seiner Syntax gerissen. Was früher nur ein vorbereitender Tanzschritt war, wird hier endlos aneinandergereiht, was früher nur eine Würze präsentabler Schritte war, das Epaulement in den Schultern, macht sich selbständig. William Forsythe persifliert das Ballett in Inhalt und Form, dessen Glauben an den Sinn des Geschichteerzählens. Er gliedert Artifact in vier Akte, füllt sie aber nur mit einer Pseudo-Story. Er persifliert ähnlich auch die abstrakte Neoklassik, die durch Spiele von Formationen seltsame Blüten trieb. Doch indem Forsythe übertreibt oder zerpflückt, erntet er neue künstlerische Mittel. Ein akustisches Beispiel: Die theatralische, einzig handelnde Figur in Artifact, die vorerst verzweifelt sinnvolle Satzfetzen (sinnlos) reiht, skandiert schliesslich pathetisch nur noch die Phoneme und den Satzrhythmus wie experimentelle Musik in den Raum. Die Tänzer erhalten so Live-Synkopen zum Soundtrack. Ein tanztechnisches Beispiel: Die Posen und das Zusammenspiel im Ballett wird in Artifact vorerst noch auf die Spitze getrieben, bis schliesslich in der Dynamik der Exzentrik das einst vornehme Ballett seine letzte Frucht abwirft. Die Posen werden nicht anmutig angegangen, sondern gerissen. Bühnenübersäte Schwanenflügel verlieren ihren romantischen Duktus, geraten, klatschen aneinander. Oder das berühmte Penché: Es ist seit Jahrhunderten die glohrreiche Pose der Ballerina, bei der das Arabesquebein – dank Partnerstütze – zunehmend den Kopf aus der krönenden Stellung verdrängt, dieser dennoch aufrecht und graziös einen Blick von unten hochsendet. Bei Forsythe triumphiert im Penché das hochschnellende Bein, das exzentrisch in die Luft ragt und ohne Bezug zum Kopf und seiner
Orientierung seitlich aufgeklappt, ja gerissen wird. Frech ist das Zusammenspiel im Pas-de-deux. Der Mann reisst mit herber Wucht das Grandjeté (nach vorne gespreizter Sprung) der Partnerin an sich, wirbelt es einmal um sich herum, bis es auf den Boden geschleudert im Spagat strandet. Was bleibt von der aristokratischen Etikette, wenn man sie sich um die Ohren haut? Der sportlich-freche Umgang mit dem Ballett-Vokabular macht Artifact zeitgenössisch (an dem die exzellente, aber überaus junge Companie Spoerlis gewinnbringend reifen wird).
Artifact ist ein Abriss der Tanzgeschichte und nach 20 Jahren auch Einblick in die, die Forsythe schrieb.