Montag, 1. September 2008

Artifact in Zürich


Gewaltiges Artifact

Der Vorhang rast rauf und runter, das Licht kommt von oben wie die Guillotine, dann von der Seite wie ein Skalpel. Die Pianistin stampft Akkorde in die Tasten und Forsythe bombardiert mit Ballettposen-Salven, gestochen scharf und schmerzhaft. Dass klassisches Ballett so gewalttätig wirken kann, - ist ein Hohn für die Zeitgenossen im Tanz, die uns für die Brutalität der Gegenwart die Augen aufreissen wollen. Wie sollen nicht ausholende Arme, rhotiert wie ein Diskus, gestreckte Beine ins Battement geschlagen und eingefroren die Wut einer Beat-Generation rausschreien? Drei Dutzend Züricher Tänzer, militärisch mehrfach gereiht, reissen von Moment zu Moment ihre hingeschmetterten Ballettfiguren wieder ein. Das perkussive Finale drängt nach einer Erlösung: drei Dutzend treten an den Bühnenrand, - nur ihr Abgang bietet sie.
Artifact, Forsythes erstes abendfüllende Ballett in Frankfurt aus dem Jahre 1984, hatte am 30. August 2008 im Züricher Opernhaus seine Schweizer Premiere. Seinem überaus minutiösen musikalischen und technischen Anspruch gewachsen, ist die Züricher Companie die zweite weltweit, die sich das komplette Stück angeeignet hat.
Das Stück ist ein Frühwerk von William Forsythe, das sich noch in weiten Zügen auf das neoklassische Vokabular stützt. Noch ist kaum absehbar, dass der Meister in wenigen Jahren Bewegungen aufbrechen, Bezüge zwischen den Körperteilen neu erfinden wird und der orientierende Blick des Tänzers wie ein nebensächliches Detail verloren gehen wird (The Loss of a Small Detail). Noch keine Spur von über digitale Zeitangaben koordinierten Live-Improvisationen. Forsythe ist hier in der Phase der Ballett-Zersetzung: Das Vokabular der Neoklassik wird pietätslos aus seiner Syntax gerissen. Was früher nur ein vorbereitender Tanzschritt war, wird hier endlos aneinandergereiht, was früher nur eine Würze präsentabler Schritte war, das Epaulement in den Schultern, macht sich selbständig. William Forsythe persifliert das Ballett in Inhalt und Form, dessen Glauben an den Sinn des Geschichteerzählens. Er gliedert Artifact in vier Akte, füllt sie aber nur mit einer Pseudo-Story. Er persifliert ähnlich auch die abstrakte Neoklassik, die durch Spiele von Formationen seltsame Blüten trieb. Doch indem Forsythe übertreibt oder zerpflückt, erntet er neue künstlerische Mittel. Ein akustisches Beispiel: Die theatralische, einzig handelnde Figur in Artifact, die vorerst verzweifelt sinnvolle Satzfetzen (sinnlos) reiht, skandiert schliesslich pathetisch nur noch die Phoneme und den Satzrhythmus wie experimentelle Musik in den Raum. Die Tänzer erhalten so Live-Synkopen zum Soundtrack. Ein tanztechnisches Beispiel: Die Posen und das Zusammenspiel im Ballett wird in Artifact vorerst noch auf die Spitze getrieben, bis schliesslich in der Dynamik der Exzentrik das einst vornehme Ballett seine letzte Frucht abwirft. Die Posen werden nicht anmutig angegangen, sondern gerissen. Bühnenübersäte Schwanenflügel verlieren ihren romantischen Duktus, geraten, klatschen aneinander. Oder das berühmte Penché: Es ist seit Jahrhunderten die glohrreiche Pose der Ballerina, bei der das Arabesquebein – dank Partnerstütze – zunehmend den Kopf aus der krönenden Stellung verdrängt, dieser dennoch aufrecht und graziös einen Blick von unten hochsendet. Bei Forsythe triumphiert im Penché das hochschnellende Bein, das exzentrisch in die Luft ragt und ohne Bezug zum Kopf und seiner
Orientierung seitlich aufgeklappt, ja gerissen wird. Frech ist das Zusammenspiel im Pas-de-deux. Der Mann reisst mit herber Wucht das Grandjeté (nach vorne gespreizter Sprung) der Partnerin an sich, wirbelt es einmal um sich herum, bis es auf den Boden geschleudert im Spagat strandet. Was bleibt von der aristokratischen Etikette, wenn man sie sich um die Ohren haut? Der sportlich-freche Umgang mit dem Ballett-Vokabular macht Artifact zeitgenössisch (an dem die exzellente, aber überaus junge Companie Spoerlis gewinnbringend reifen wird).
Artifact ist ein Abriss der Tanzgeschichte und nach 20 Jahren auch Einblick in die, die Forsythe schrieb.

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