Donnerstag, 16. Oktober 2008

Festival TANZ IN. BERN

erschienen in Ensuite Nr. 70, S. 11-15:


I. TANZ IN. BERN: Frische oder eine Neuauflage des alten Festivals?


TANZ IN. BERN löst das Festival Berner Tanztage ab. Mit dem neuen Festivalleiter Roger Merguin und anschliessend mit drei beteiligten Choreographen sprach Kristina Soldati. Vom Festivalleiter wollte sie wissen, was er am Konzept weiterzuführen und was er zu erneuern gedenke.
MERGUIN: Innerhalb von 20 Jahren haben es die Berner Tanztage geschafft, sich als eine Art Institution in der Schweiz zu etablieren. Sie entwickelten eine grosse Dynamik, weckten die freie Tanzszene, die sich vor 20 Jahren erstmals wirklich manifestierte. 
Diese Frische möchte ich dem Festival wieder zurückgeben. Ich werde neben etablierten Choreographen wie Susanne Linke und Jean-Claude Gallotta auch internationale Neuentdeckungen präsentieren, die ich gerne mit dem Berner Publikum teilen möchte. Es wird eine stilistische Vielfalt geboten, die experimentelle Werke, Installationen aber auch bewährten Tanz umfasst. Damit das Publikum nicht nur die namhaften Pro
duktionen herauspicken muss, haben wir einen Festival-Pass eingeführt, der zum Preis von Fr. 120.—(für StudentInnen Fr. 90.-) während drei Wochen erlaubt, so viele Stücke zu schauen wie man will. Das soll die Lust am Experiment erhöhen und zum Ausprobieren ermutigen. Die Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes, von den neuen Choreografen über die Grand Dame des Tanztheaters Susanne Linke bis hin zu einem Tanzparcours in der Stadt Bern soll erlebbar und bezahlbar sein. 
K.S.: Und das drei Wochen lang. Mit bis zu zwei Vorstellungen täglich ist TANZ IN. BERN anspruchsvoller als das vorangehende Festival. Wie schafft Ihr das?
MERGUIN: Der Beitrag der Stadt Bern wurde schon vor dem Ende der Berner Tanztage
 von 80 000 auf 200 000 CHF aufgestockt und wir können auch auf die Unterstützung des Kantons Bern zählen. Dann haben wir ein Fundraising für TANZ IN. BERN gemacht. Wir wollten uns aber nicht nur in die Abhängigkeit von Sponsoren begeben und setzten auf die Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen wie die Tanzaktive Plattform, dem Institut für Theaterwissenschaften, der HKB, dem Stadttheater und anderen. Auch Botschaften der Gastländer konnten wir für das Programm begeistern. Wir nutzen auch Synenergien mit der Dampfzentrale, ihrer Verwaltung und technischem Perso
nal. 
Dem Festivalzentrum rund um die Dampfzentrale wird ein neues Gesicht verliehen, das Publikum wird sofort die Festivalstimmung erleben können – hier sei nur die Geisterbahn vor der Dampfzentrale erwähnt. Zur Auffrischung des Festivals gehört wohl auch, dass ihm durch die neue Leitung eine neue Handschrift verliehen wird. Ich schätze Ironie, Intelligenz und Humor im Zugang zu Tanzstücken. Das Gesamtkunstwerk, in dem der Tanz sich v
ertieft an verschiedenen Kunstformen wie Installation, bildender Kunst, Video, Literatur und Musik bedient, sich also in einen zeitgenössischen Kontext stellt, ist ein Schwerpunkt, den ich dabei setze.
K.S.: Nun, das tat auch schon das Tanztheater, und der neue Konzepttanz, der so arbeitet, befriedigt nicht alle Zuschauer.
MERGUIN: Ich setze auf eine gute Information über das Programm und hoffe, dass Qualität einfach geschätzt wird. Deshalb bieten wir Publikumsgespräche und Stückeinführungen öffnen Einblicke in die Werke. Stückausschnitte sind auch auf unserer Website zu finden - niemand soll auf eine falsche Fähre geleitet werden. Transparenz ist uns sehr wichtig.

II. Jean-Claude Gallotta und der Optimismus der Jugend
Copyleft ist das Motto der ersten Ausgabe des TANZ.IN BERN Festivals, der Nachfolge
 der Berner Tanztage. Was soll kopiert werden, was aufgefrischt, um kein Abklatsch zu sein? Nicht nur Festivalleiter Roger Merguin, sondern auch viele Künstler scheinen sich mit ihrer Tradition auseinandersetzen zu wollen. Jean-Claude Gallotta, seit über 25 Jahren Leiter des Centre Choréographique National de Grenoble, hat sein frühes Stück Ulysses, das grosse Beachtung erfuhr, wieder
 hervorgeholt. Der Choreograph erzählt dem Kulturmagazin Ensuite, wie das Anknüpfen und Neuschöpfen im jüngsten Werk Cher Ulysses inhaltlich und stilistisch bedeutsam ist.
Gallotta: Ulysses habe ich 1981 kreiert, nach meinem USA-Aufenthalt, wo Cunningham und seine Neubehandlung des Raums und der Zeit einen grossen Eindruck auf mich machte. Es ist ein flinkes, zuversichtliches und verspieltes Stück mit weissgekleideten Tänzern vor 
weissem Bühnenbild. Es würfelt das klassische Vokabular ebenso wie das des modernen Tanzes durcheinander.
K.S.: Die fliessende Bewegung, die das gesamte Stück durchzieht ist wie eine aufgedrehte Version vom Limon-Stil. Haben Sie alle vorzufindenden Stile dekonstruiert?
GALLOTTA: Das ist interessant. Ich habe selbst nie Limon gemacht, aber das Schroffe bei Cunningham hat mich so abgeschreckt, dass ich vielleicht in diese Richtung geflohen bin. Die Schaffensjahre danach lassen sich fast wie eine Abwendung vom Ulysses verstehen. Es folgten interdisziplinäre Stücke - ich hatte vor dem Tanzen bildende Kunst studiert 
-, auch fil
mische Werke. Und vor allem pessimistische...
K.S.: Das Tanzstück Cher Ulysses ist also ein bewusstes Wiederanknüpfen und doch mit Abwandlung?
GALLOTTA Bei der neuen Version habe ich das Originalwerk technisch und stilistisch sehr reduziert. Die Gesten und Zeichen habe ich so weit vereinfacht, dass sie auch für Amateure ausführbar wurden. Denn meine derzeitige Companie umfasst sowohl junge ausgebildete Tänzer als auch Amateure. Die Frage war, sie miteinander zu konfrontieren, zu sehen, was ihnen gemeinsam war, und zu vermitteln. Ich mag zwar Technik, aber die Tänzer müssen sie auch wieder loslassen können. Die auch altersmässige Mischung der derzeitigen Gruppe finde ich interessant. Was ich beibehielt, ist das allumfassende Weiss des Bühnendekors und die verspielte ungebrochene Dynamik. Die Wiederaufnahme von Ulysses ist also eine 
Art Paradox: Obwohl die Hoffnungen meiner jungen Jahre auf die Korrigierbarkeit der Welt argen Blechschaden erlitten, habe ich den ursprünglichen Elan aufgegriffen. Manchmal ist dieser Elan dann wie ein Leerlauf, er setzt sich fort, weil die Maschinerie einmal in Fahrt kam. Die Ambiguität spiegelt sich im Dekor wieder: Die grossen weissen Segeltücher rings um die Bühne sind nur halb gehisst, sozusagen auf Halbmast. Sind sie halb hoch oder halb runter, oder ist die Maschinerie kaputt? 
K.S.: Bei so viel verkopftem Tanz derzeit wird der Zuschauer sich über Ihre Bewegungslust freuen...
GALLOTTA Ich kann die zeitgenössische Tendenz dennoch nachvollziehen. Es gibt künstlerische Moden, die man durchstehen muss. Es gibt darunter interessante Vors
chläge. Allerdings wagt man heute kaum, ein Optimist zu sein und der Bewegung zu frönen. Ich denke, der Mensch hat derzeit einen Hauch Schwung verdient, ein Durchatmen. Kurz, ich fühle mich auf den Festivals am wohlsten, wo die Vielfalt waltet.

III. “Die Präzision in der Subjektivität” bei Alias
Der diesjährige Schweizer Tanzpreis geht an Guilherme Botelho und seine Companie Alias. Der Genfer Choreograph hat die Schweizer Tanzlandschaft seit den 90ern geprägt und sich einen guten Ruf auch im Ausland gesichert. Wir werden im Rahmen des Festivals TANZ IN. BERN die Gelegenheit haben, die Preisverleihung und sein jüngstes Werk Approcher la Poussière zu erleben:
Ein Tag wie jeder andere entfaltet sich auf der kargen Bühne. Ein Mann arbeitet zu Hause am Computer, die Frau betritt die Wohnung, worauf er bald aufbricht. An einer Haltestelle ruft er ein Taxi und fährt zum Hautarzt. Die ersten zehn Minuten zeigen diesen gewöhnlichen Tag mit wenigen markanten Bewegungen in einer dekorlosen Szene, ganz ohne Tanz. Nach der Heimkehr des Mannes wiederholt sich die Episode wie ein Reigen, und es kommen Feinheiten und kleine getanzte Abwandlungen zum Vorschein. Als ob beim näheren Hinsehen die Beschaffenheit der Oberfläche sich preisgäbe: Approcher la Poussière ist eine Schule des Sehens.
BOTELHO: Das Thema des Stückes ist die Realität hinter der Realität. Wie die nähere Untersuchung unter dem Mikroskop eine neue Wirklichkeit aufdeckt, so lüften scheinbar normale Begebenheiten so manches psychologische Geheimnis und Unausgesprochenes. Und die Struktur des Stückes folgt dieser Thematik. Mit jeder Wiederholung ufert die Episode an der einen oder anderen Stelle aus.
K. S: Die Einschübe und Abwandlungen an diesen überbordenden Stellen sind reine Bewegungssequenzen. Sie sind sehr ausdrucksvoll und verraten viel vom jeweiligen Seelenzustand der betroffenen Person. Die Geschichte selbst wird dagegen von recht schauspielerischen Bewegungen vorangetragen.
BOTELHO: Ich habe da wirklich keine Prioritäten. Ich arbeite sehr wenig den Bewegungstext. Aber reine Bewegung..? Ich verstehe nicht, was reine Bewegung ist. Für mich kann eine kleine Geste, eine einfache Pose so treffend und rein sein. In meinen Augen geht es darum, die Präzision in der Subjektivität des einzelnen nachzuzeichnen und herauszubilden, selbst wenn das paradox klingt. Ich suche im Alltag. Er ist mein Forschungsfeld und Inspirationsquelle, was die Essenz der Companie Alias ausmacht. Die Tänzer und ich gehen zum Bahnhof und studieren Persönlichkeiten. Deshalb interessieren mich auch Tänzer, die sich nicht hinter ihrer Technik und einem erlernten Stil verstecken. Jeder Tänzer trägt ein gewisses Gepäck an Bewegungen mit sich herum, das ihm das Leben aufgebürdet hat. Wenn er aus dieser individuellen Sammlung auspacken kann, schätze ich das.
K. S.: Das macht Ihre Stücke dann entsprechend recht eklektisch. Jeder hat seine charakteristische Bewegungssprache. So faszinierend das ist, birgt das nicht auch choreographische Einschränkungen? Sie werden wohl beispielsweise kaum einmal dieselbe Bewegunsphrase teilen?
BOTELHO: Doch, das habe ich einmal für mein Stück Frankenstein genutzt. Da defilieren Frauen in hautfarbenen Plastikkorsettes und -busen. Trotz ihres unterschiedlichen Wuchses sind sie in die identische Grösse gepfercht. Sie reihen uniform den gleichen Tanzschritt. Das kann sehr eindrücklich sein...
K. S.: Zurück zu Ihrem Werk Approcher la Poussière. Die Reaktion des Mannes im Stück an einer Stelle der Episode, die Sie in einer Tanzsequenz unter die Lupe nehmen, ist wie elektrisiert, wie unter Strom. Das haben Sie doch nicht im Alltag gefunden, oder?
BOTELHO: Na ja, nach dem Alltagsfund kommt die Arbeit, wir entstellen und verfremden das Material.
K. S.: Dann mögen Sie wohl auch Pina Bausch..?
BOTELHO: Ja sicher. Sie ist grossartig. Sie sagte einmal, sie schätze Tanzbewegungen zu sehr, um sie beständig einzusetzen und abzunutzen. Der Tanz und seine Bewegungen sind wie ein festliches Kostüm. Es kommt nur bei ausgewähltem Anlass zur Geltung. Aber beeinflusst bin ich wohl auch durch Filme von David Lynch.

IV. Karole Armitage zurück in der Schweiz
Karole Armitage liefert im Rahmen des Festivals TANZ IN. BERN tanztechnisch den anspruchsvollsten Beitrag. Kein Wunder, wurde sie doch auch schon von Rudolf Nureyev an der Pariser Oper für Choreographie beauftragt, von Mickail Baryshnikov für das ABT. Nach den Durchlaufproben ihres jüngsten Stücks in Bern beantwortet sie Fragen zur Herkunft ihres Stils. Sie erzählt von den Anfängen ihrer professionellen Laufbahn in der Schweiz.
Nein, moderne Bewegungen habe die Amerikanerin zu den Balanchine-Zeiten der Genfer Companie in den frühen 70ern als Solistin nicht vermisst. Sie kannte modernen Tanz gar nicht. (Erinnern wir uns, die Spaltung zwischen Ballett und Modernem Tanz war in Amerika, und nicht nur dort, tief. Man sprach sich nicht, man sah sich nicht.) Sie wollte allerdings beim Tanzen schon etwas mit unserer Zeit zu tun haben. So brachte ihre Schweizer Kollegin sie nach New York und setzte sie in eine Vorstellung der Merce Cunningham Company. Von dort kehrte sie nicht mehr zurück. Sie tanzte für Merce sechs Jahre lang.
Was sie von seiner Arbeit erben möchte? “Seinen hierarchiefreien Raum”, antwortet Karole Armitage. Er war nicht voreingenommen, welche Stellen der Bühne zwecks Wirkung vorzuziehen seien. Sie sind alle gleichwertig, wie auch seine Tänzer, am liebsten hätte er auch einen variablen Blickwinkel des Zuschauers. Überraschende Tänzer-Konstellationen hatten so eine Chance, wir wissen, dank Cages Zufallssystem, eine reelle. In Karole Armitages neuem Stück ist allerdings nichts dem Zufall überlassen, schon gar nicht Konstellationen: Die Formationsverliebtheit Balanchines schlägt immer wieder durch. Wir sehen mal gerade Linien quer über die Bühne ziehen, oder blumige Rankungen eines sich anfassenden Quartetts. Seine dekorativen Arm-Bein-Verflechtungen zitieren die Serenade Balanchines, das grosse Vorbild der Choreographin. Ob Karole Armitage sich der Unangepasstheit ihrer ausladenden Bewegungsphrasen in Zeiten der Fragmentierungen bewusst ist? “Na, ja. Der Tanz hat in den 60ern mit der Postmoderne bewiesen, dass er unabhängig ist. Keine Story, keine Musik, keine Bedeutung, keine Virtuosität. Nun kann man bewusst wieder an solche überholt geglaubte Werte anknüpfen.”, meint sie. “An musikalische Phrasen wie beim frühen, romantischen Janacek?” Diese Frage lockt sie aus der Reserve. “Ja und nein, Phrasen sind ja schon der Bewegung inhärent… Phrasen sind vielleicht meine choreographische Eigenart überhaupt. Nicht die Posen sind mir wichtig, sondern wie man hinkommt. Bei mir sind es Kurven und Kreise. Das hat mich lange Jahre gekostet, dem Ballett das einzubauen. Den Weg der Kurven und Kreise in den Tänzern zu verankern, in ihrem Zusammenspiel herauszuarbeiten und ihn spüren zu lassen war eine Herausforderung. Auch hier am Berner Ballett.” Bleibt abzuwarten, ob sich das Publikum von den Posen und akrobatischen Hebungen nicht täuschen lässt... denn: der Weg ist also das Ziel. Ein Tipp: man folge den Kurven... - auch wenn sie in die Luft gemalt und ephemer sind.
Und mit einem liebenswerten unschuldigen Blick fragt sie zum Abschied: “Wer hat noch mal mit fragmentierten Bewegungen was Interessantes gebracht?”, und dann: “Ähm ja, und ausser Forsythe?”

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