Das rote Cocktailkleidchen um den Ohren torkelt Julio Arozarena liebestrunken auf die Bühne. Er ist buchstäblich der Dame seines Herzens und ihrem Duft erlegen. Er lässt sich zu Boden, schleppt sich auf allen Vieren über den roten Stoff, um sich sinnlich darob zu ergehen. "Aria" heisst das Stück des neuen künstlerischen Direktors, Gil Roman, das er am 20. und 21. Dezember in Lausanne präsentierte. Der Béjart-Zögling und dedizierte Nachfolger hat sich manche choreographische Kunstgriffe vom Meister angeeignet. Sie dienen, um Effekte zu erzielen. Gleich zu Beginn hängen drei rotlackierte Schaukeln mit drei bezaubernden Damen, Beine keck übereinandergeschlagen. Die Füßchen sind angespitzt und kein Mensch erwartet, daß daraus Bewegung entstehe. Dafür bewegen uns sogleich die Goldberg-Variationen in Glenn Goulds Einspielung. (Play-Back zu den Tasten-Scheinübungen eines Tänzers in Pianistenpose). Wenn die Damen, "Les Ariane" (sic!) laut Programmheft, von der Schaukel gleiten, sich staksend nebeneinander positionieren und synchron die Rhythmen Bachs zur metrischen Unterlage ihrer Neoklassik-Etüden reduzieren, warten wir nur darauf, von der passenderen Musik Nine-Inch-Nails erlöst zu werden. Von den allgegenwärtigen Hüftakzenten abgesehen ist choreographisch keine Handschrift abzulesen. Schon gar keine einheitliche. Mancher Ensembleeinsatz in natürlichem Pastell, der übrigen Glanzästhetik unterlegen, spricht von der Kraft urtümlichen Tanzes. Er erinnert an die ergreifende Gruppendynamik Béjarts. Man kann in diesen Momenten nachvollziehen, wie sinnliche Erfahrung einer Bewegung, ihres Schwunges die nächste generiert. Wenn z.B. eine unformierte Horde breitbeinig mit dem Rücken zum Publikum mit links dann rechts in ein tiefes plié (Beinbeuge) stampft. Dem folgen im Puls, links dann rechts, seitlich ausschwingende Ellebogen. Sobald der letzte Schwung zur Körpermitte zurückfällt, nutzen sie ihn, um aus dem tiefen plié in die Höhe zu schnellen. Bei der brillianten Gruppe ist das ein halber Meter, gekrönt vom rückgebogenen Hals und dem Blick auf uns. Sonst aber darf das Ensemble um die Solisten kreisen und ihren Scheinwerferkegel säumen. Am Schluß (leider wieder auf Bach), liegt es am Boden darnieder. Bedeutsam senkt sich dann eine dicke rote Kordel, dessen ausfransende Enden jeder ergreift: das Béjart-Ballet zieht am selben Strang.
Der Titel des ersten Balletts des mehrteiligen Abends "Le Casino des Esprits" ist wenigstens explizit, und wir erwarten nichts Tiefgründiges. Es ist ein Auftragswerk Béjarts an seinen damaligen Solisten und Assistenten, zum 50jährigen Bestehen des Balletts. Eine Reihung von Konzerten für Flöte, Streicher oder geistliche Chormusik von Vivaldi begleiten wahllos das Ambiente eines dekadenten Venedig. Masken und zweidimensionale Papp-Rokokoröcke sind nur da, um die Gesellschaft proforma gedeckt zu halten. Doch bald entledigt sie sich derer und sie kann frei mit den Kurtisanen ihren Lüsten fröhnen. Eingestreute marionettenhafte Bewegungen stellen die einzige Stilisierung der fortwährenden konkreten Anmache dar.
Kontrastprogramm bot dann Gastchoreograph Mats Ek mit "The Place". Ein asketisches
Inventar, ein Teppich mit Tisch darauf, ist alles, was der Meister der Psychologie nötig hat, um ein differenziertes Bild einer Beziehung zweier reifer alternder Menschen zu zeichnen. Unter den Teppich kann man viel Vergangenes kehren, man kann sich gleich dazulegen, wie Ana Laguna es tat, um Mikhail Baryschnikov eine Solopartie zu überlassen. Er rückt sich ins rechte Licht, zumal wenn er sich auf die Tischplatte hochschnellt. Sonst dient
diese, dem Partner zuvorkommend die combrés enarrières (Rückenbiegungen) abzufangen oder sich schneller zum Gegenüber (mit Windmühlen-Beinen) hinüberzuschwingen. Ihre Beziehung ist so vielseitig wie ihr Umgang mit dem Mobiliar. Mal schleppt sie ihn samt Teppich quer über die Bühne, mal träumen sie Seite an Seite einer Vision entgegen, hoch oben auf dem (mit Teppich) gedeckten Tisch. Ihr Angesicht silbern erstrahlend. Doch enden wird es umgekehrt: Der sechzigjährige Baryschnikov tritt ab, der Tisch trauert mit allen Vieren gen Himmel und Ana Laguna zuckt fragmentiert bis das Licht erlöscht. Mats Ek hat den Tanz einfühlsam auf die beiden Stars abgestimmt. Sie brauchen nicht sparsam tanzen. Und bleiben ehrlich.
Was aber hat ein Mats Ek in diesem Ballettabend zu suchen?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen