erschienen in Ensuite Nr. 73 S. 11-13:
Im amerikanischen Tanz-Boom der 60er, als Balanchine genauso am Höhepunkt seines Schaffens war wie Merce Cunningham, entstand ein
äusserst experimentierfreudiger Tanz. Er positionierte sich
absichtlich ins Abseits, mied theatrale Strukturen. In einer verlassenen Kirche, der Judson Memorial Church in Greenwich Village in New York, gab
es keine Ränge, keine Rampe, noch Vorhang, die die Experimentierfreudigen von ihren zuschauenden Mitstudenten trennten. Sie forschten auch nicht im üblichen Bewegungsbereich nach Tanzmaterial, sondern lugten absichtlich über die Grenzen des Tanzes. Sie machten auch nicht halt vor den Grenzen des eige
nen Körpers. Die noch namenlose Contact-Improvisation bot die Grenzüberschreitung, auf die sie ab
zielten. Übertrug man Schwünge und Gewicht des eigenen Körpers auf andere, konn
te Neues in der Bewegung entstehen. Hinzu kam die Öffnung zu den neuen Technologien. Es entstand eine Event-Kultur, wie wir schon bei John Cage, Merce Cunningham und dem Maler Robert Rauschenberg sahen. Eine weitere Besonderheit der kreativen Köpfe der J
udson Church war die Demokratisierung der Kunst. Keine anspruchsvolle Technik sollte die Künstler vom Zuschauer absondern, sondern das gemeinsame Erlebnis extravaganter Ideen ihn zu ihrem Komplizen machen. Wenn ein Gründungsmitglied der Zeit, Steve Paxton, sich in einem Museum von Gleichgesinnten anspringen liess und die zugeflogene Energie abfin
g und umwandelte, war das ein Austasten eines neuen Bewegungsbereichs (später Contact-Improvisation). Wenn ein weiteres Gründungsmitglied, Trisha Brown, 1971 mit Tänzern
Dächer im SoHo bestieg, so war das ein Austasten der Dehnbarkeit des Zuschauerbere
ichs: Kein Zuschauer konnte den gesamten Tanz ins Auge fassen, berichtet Maria B. Siegel, vielleicht die bedeutendste Kritikerin der Zeit. Dennoch war es spannend zu sehen da oben, wie Bewegungen, die Trisha über Dächer hinweg ihrer Mittänzerin 'zuspielte' und diese wiederum der nächsten reihum im weiten Kreis, bei Trisha wieder ankamen. Das war Kommunikation über Wolkenkratzer hinweg. Man Walkin
g Down the Side of a Building war ein weiteres Out-door-event der Choreographin Anfang der 70er. Ein Mann wurde an einem Haken a
m Dach angeseilt und marschierte kurzerhand an der Fassade herunter.
Überflüssig zu erwähnen, dass keiner von den Gründern bis zu ihrer Anerkennung als "die Postmoderne im Tanz" sich je einer Tanzinstitution untergeordnet hatte. Auch nicht zur Ausbildung. Sie hinterfragten tänzerische Bewegung so radikal, dass der Begriff no-dance aufkam und Steve Reich dazu bemerkte: "In den frühen 60ern ging jeder zu 'ner Tanzvorstellung, um Herumstehende zu betrachten, und anschliessend auf 'ne Party - um zu tanzen."
In den 80ern wurde die Postmoderne vom Mainstream aufgesogen. Während sie sozusagen von aussen und über die
Fassaden die Theaterbühne erklomm, brachten junge Europäer sie unter den heimischen Himmel. Die Bewegung schwappte nach Europa über.
Ein Beispiel davon ist DaMotus, deren Gründer in den 80ern vielleicht die letzten Fre
iluft-Veranstaltungen dieser Avantgarde in New York mitbekamen. Dass die Freiburger Tä
nzer in der ländlichen Gegend dasselbe praktizierten wie die Vorreiter, verdankten sie aber de
r damals misslichen Infrastruktur des Kantons. "Es gab keinen Proberaum für uns", meint Antonio Bühler. Da trainierten wir im Freien und entdeckten unsere Kindheit wieder, wo wir Rumliegendes umfunktionierten, bestiegen und bespielten. Ein Stück beispielswei
se erobert die Pyramiden der plasitifizierten Heuballen auf den Äckern, wonach - geben wir es zu -, auch uns schon immer in den Fingern juckte.
Site-specific-Dance
Als das Festival Belluard 1987 ein Out-door-event suchte, reifte ihre Idee des
Urbanthropus. Halb aus der Wechselblüter-Vorgeschichte der Menschheit halb aus Fiction-Filmen entschlüpft bekriecht diese Kreatur die Zementauftürmungen unserer Zivilisation.
Sie beklettern Verkehrsschilder, hängen an
ihnen kopfunter zur Rast. Sie flechten ihre metallenen Gliedmassen durch Schmiedeisentore von Kathedralen. Sie sind keine asozialen Wesen, beschnüffeln die Einkaufstüten der Passanten und nehmen gern das Versteck- und Erschreckspiel neckischer Kinder vor Ort auf. Improvisation ist genauso ein Teil ihres Stückes wie einstudierte Elemente. Solche Elemente werden auf verschiedene Städte angepasst. Schilder, Brückengeländer und Winkel gibt es überall. Und was an solchem Geländetanz ist dann noch spezifisch? Nun, es gibt zwei Arten von Site-specific-Tanz, erklärt uns der Experte:
der eine entsteht konzeptuell aus einem besonderen Ort. Dieser Ort löst die Idee und das Thema aus. Das Kloster Part-Dieu und sein verfallener Friedhof beispielsweise, oder das Gruyerzer Schloss mit seinen immensen Gitterstäben an den Fenstern. Dann gibt es denjenigen Tanz, der Typisches aber Wiederholbares an solchen Plätzen thematisiert. Kreisverkehr gibt es in allen Städten, einen Schilderwald auch, sie zeugen von Urbanität.
Demokratisierung der Kunst
Wenn Tänzer Plätze unseres Alltags betanzen, dann begeben sie sich gewissermassen in den Rachen des Löwen. Hier sind nicht Zuschauer in Freizeitstimmung, auch nicht Kunstgebildete und Zahlungswillige. Indem die Tänzer sich auf unseren Alltagsstress einlassen, leisten sie einen gewagteren Schritt Richtung Demokratisierung der Kunst als noch die Avantgarde der beschwingten 60er. Site-specific-Tänzer wollen auch keineswegs mit den Strassenkünstlern wetteifern. Keine virtuosen Tricks sollen die Aufmerksamkeit auf sich lenken, sondern stille Irritationen. Man darf auch n
icht dasselbe Massstab wie an ein einheitliches Kunstwerk anlegen. Auch damit stehen sie durchaus in der Entwicklungslinie der Event-Kunst. Das "Hier und Jetzt" ist wichtig, betonen sie, und wir Zuschauer sind als Komplizen gefragt. Sie greifen Formen, die wir an unserer Stadt gar nicht wahrnehmen, auf und machen den Rhythmus ihrer Anordnung durch Bewegung erst sinnfällig. Solche Werke wollen zugänglich sein. Keine Kopfkunst stösst uns vor den Kopf.
Dialog mit dem Platz
Was aber ist genau das Aufgreifen von Formen und rhythmischer Anordnung? Worin besteht dieser hochgerühmte "Dialog" mit der Architektur und der Landschaft? Wir müssen eine Antwort finden, sonst sind die Begriffe nichts weiter als leere Metaphern zu einem schalen Genre.
Das Markante am Ort
Wie kann eine Auseinandersetzung mit räumlichen Besonderheiten aussehen? Das Markante am Ort hervorzuheben kann ein Vorhaben innerhalb der Auseinandersetzung sein. Ein anderes, das Markante zu brechen, sich dem querzustellen. Kann man beides machen? Nehmen wir als Beispiel ein metallenes Treppenhausgerüst, das an eine Fassade angebaut ist. Über mehrere Etagen türmen sich die Stufen. Jede Etage erscheint wie ein Kubus, ja Käfig, mit einer Zwischenplatform, wo der
Besteiger zur gegenläufigen Treppe sich wendet. Die Stiegen sind nicht massiv, sondern nur flaches Metall, sodass Benutzer durchweg mit dem Auge verfolgbar sind. Was am Treppengerüst markant ist, wenn man die Stufen frontal anblickt, steht im Kontrast zum Hausblock mit grossflächiger Fassade: das Durchlässige sowie das engstrukturiert Regelmässige. Alle sichtbaren Linien sind horizontal (Stufen sowie Geländer
der Zwischenplatform). Dieses besondere Merkmal heben die Arabesquen (90° gehobene gestreckte Beine) der DaMotus Companie hervor, sowie parallel aus dem Gerüst ragende waagerechten Arme. Den Bruch des Markanten dagegen leisten Diagonalen. Und zwar in Form steifer Körper, wenn sie in 45° Winkel zur Hauswand g
eneigt die Stufen erklimmen. Oder wenn die Tänzer je auf einer Zwischenplatform synchron die Beine an den Kubusecken wie Winkelhalbierende herausstrecken. Sie betonen einerseits das Geometrische, seine Wiederholungen in der Auftürmung, und setzen doch mit der Diagonale Gegenakzente.
Körperglieder als architektonischer Anbau?
Das klingt ja noch alles sehr statisch. Körperglieder als architektonischer Anbau? Site-specific-Tanz wird sich im Idealfall aber auch mit dem Rhythmus der Architektur ausein
andersetzen. Und sie in dynamischen Rhythmus umsetzen. Was genau in der Architektur Rhythmus ist, ist ein Thema für sich. Die Fachleute bringen den Begriff mit Wiederholungen von kleineren Einheiten innerhalb eines (grösseren) Ganzen in Verbindung und fügen die Frage hinzu: In welchem Verhältnis? Wenn jedes zweite Fenster einen Balkon hat
, so ist die kleinere Einheit "Öffnungen" der Fassade in der grösseren Einheit Stockwerk z.B. eine regelmässige Wiederholung im Verhältnis 1:2 (Balkonfenster seien doppel so gross wie schlichte). Kurz-lang, kurz-lang, ... wäre eine akustische Entsprechung. Unser Treppengerüst ist gleichmässig strukturiert. Die erwähnte Platform zum Wenden reiht sich da ganz unauffällig ein. Hüpfet man die Stufen Knöchel an Knöchel hinab, ist die Platform eine erzwunge
ne Pause. Indem nun mehrere Tänzer sowohl das gleichmässige Runterhopsen, als auch ein regelmässiges Einhalten chanonartig unter sich verteilen, über mehrere Etagen, und mit 180° Wendungen von frontal zu dorsal Überraschungsmomente setzen, greifen sie den Rhythmus des Baus auf und spielten mit ihm. Es entsteht eine nahezu fugenartige Komposition. Die Idee ist brilliant, viel zu wenig ausgekostet leider von der Gruppe DaMotus.
Negativer Raum
Einen eigenwilligen Dialog geht Willi Dorner mit der Architektur ein (unlängst
auf dem Festival Bern In. Tanz zu sehen). Er sucht oft "negative Räume" auf. Das sind beispielsweise Zwischenräume. Wenn er in Hauswandnähe einen Schilderwald spriessen sieht, gehen ihm seine Tänzerkörper durch den Kopf. Und schon weiss er, wieviele von ihnen in
den Spalt reingezwängt werden können. Zwischen Fassade
und Stäbe gepfercht hält sie die Reibungs
kraft, auch kopfunter, ganz ohne Bodenkontakt. Was betont Willi Dorner hier? Das Marginale, Randzonen. Indem Tänzer zusammengedrängt Volumen bilden, können derart aufgefüllte Leerräume überhaupt erst sichtbar werden. Die Skulpturen, die dabei entstehen, sind bizarr und komisch. Bevor Gesichter blau anlaufen, (Kapuzen sorgen zudem für die nötige Neutralisierung der Körper), springen sie aus den Posen und laufen zur nächsten. Hundert Meter weiter türmen sie sich erneut. Sobald der Betrachter nachfolgt, lebt auch schon dieser stadtarchitektonisch vergessene Raum.
Funktionalität der Städte
Wenn er an gut strukturierten Bushaltestellen die Körper säuberlich stape
lt, um die beste Raumnutzung zu bieten (indem er die Bankflächen auch von unten 'besetzt'), nimmt Willi Dorner den Ordnungswahn und die Funktionalitätsmanie auf die Schippe? Mit dem Dialog zwischen Tanz und Architektur ist es nicht getan. "Ich wünsche, dass die Stadtbewohner ihres Umfeldes überhaupt wieder gewahr werden, auch auf Unscheinbares aufmerken. Und mehr: sie sollen den städtischen Raum wieder zurückgewinnen können!" Die Leiterin des Centre Pompidou reizte der Gedanke, mit ihrer beauftragten Kunst auch mal Stadtteile verkehrstechnisch lahm zu legen. "Störungen und Irritationen" nennt sie das dann. Denn wo der Fussgänger zur Site-specific-Kontemplation eingeladen wird und weitere Neugierige anlockt, gerät so manche städtische Funktion ins Stocken.
Dass dabei der rhythmische Charakter von Bewegung, ja die verschiedenen Dynamiken von Bewegung im Tanz auf der Strecke bleiben, nimmt der Choreograph in Kauf. "Ich will in dieser Alltagshektik das Meditative verbreiten."
Wer also noch die rebellische Bewegungswut der New Yorker Strassentänzer in Er
innerung hat, die den öffentlichen Raum verunsicherte, sieht sich also enttäuscht. Aber die wollten toten Beton zum Beben bringen und die Wüste der Vorstädte pulsieren lassen. Auch eine durchaus geländetypische Antwort...
Inhärente Bewegung
Heidi Amisegger, die Leiterin der ÖffÖff-Productions in Bern,
produziert seit fünfzehn Jahren für besonderes Gelände. Ob für Brücken oder hohe Wände, bei ihr ist Akrobatik mit im Spiel. Trisha Browns Wandgang treibt sie gar auf die Spitze, wenn sie ihre Leute kopfun
ter wandeln lässt (upside-down-walk). Indem sie gern angeseilt arbeitet, kann Dynamik ungewohnte Ausmasse annehmen. Obwohl, auch wieder nicht: ken
nt man schon vom bungee-jumping. Wenn wir nicht jede rhythmisiert vorgeführte Bewegung Tanz nennen wollen, und nicht jede Erweiterung des Bewegungsspielraums (in den Lüften) als tanzförderlich ansehen, dann müssen wir uns um ein konkretes Beispiel bemühen: die Aufführung mit Alphorn auf dem Dach des Zentrum Paul Klee.
Das Markante an diesem Gebäude von Renzo Piano, das wellenförmige Stahldach, hat die Statur eines Wahrzeichens. Da das Dach in die umliegende Äcker einfliesst, kann man es beim Spazieren betrachten: "Das glänzende Metall spiegelt den Himmel wieder und erinnert mich an die Gletscher. Die tiefen Rillen zwischen dem wellenförmigen Gerippe sind wie Gletscherspalten. Das nutzten wir." Tatsächlich, beim erklimmen der Höhen sinkt immer wieder jemand in die Spalten ab. Die abwechselnden Posen, auf allen Vieren, steil dem ‘Berg‘ zugeneigt stehen, auf dem Hintern rutschend und plötzliches Absacken bietet an sich Material genug für einen Tanz. Die Choreographin macht uns auf einen neuen Aspekt aufmerksam, den die vorigen Choreographen übergingen: "Die Architektur hat eine inhärente Bewegung. Diese wollte ich aufzeigen".
Die Sinuskurve des Paul-Klee-Zentrums
Sehen wir Bewegung am Dach, weil wir die Wogen des Meeres assoziieren? Weil laue Hügelketten zum Wandern einladen? Weil die Bahnen uns an die parallelverlaufende Autobahn und ihre Geschwindigkeit gemahnt? Neben solchen kontext- und kulturabhängigen Antworten, gibt es vielleicht auch welche, die mit der Gleichförmigkeit der Struktur zusammenhängen. Die regelmässige Reihung von Wölbungen der Sinuskurve versinnbildlicht in der Mathematik u.a. die harmonische Schwingung, also Bewegung. Sowohl der Feder- als auch der Fadenpendel, einmal in Bewegung gebracht, schwingt (ohne Luftwiderstand) je in einer konstanten Auslenkung und Dauer. Die Amplitude und die Schwingungsdauer sind den Koordinaten der Sinuskurve abzulesen. Es steckt noch mehr ablesbare Bewegung hinter dieser Kurve: die Dynamikveränderung des Pendels. Die Höhen und Tiefen der Kurve entsprechen dem Umschlagspunkt des Pendels, an welchem die Geschwindigkeit null ist. Zwischen ihnen wird's rasant. Wo die Beschleunigung am grössten ist, ist die Spitze der Cosinuskurve. Welche genauso harmonisch sich hinwellt. Ist das zu abstrakt? Ganz ähnliche Kräfte sind aber am Werk, wenn wir uns oben auf die erste Höhe des Dachs platzieren würden. Unsere potentielle (die sogenannte Lage-)Energie lassen wir frei, indem wir gegen das Tal rennen, unten angelangt ist diese Fallkraft gehemmt und lediglich der Schwung gibt uns Auftrieb. Die Reibungskraft können wir nicht ausschalten, also kompensieren wir das letzte Stück mit Muskelkraft. Am oberen Punkt spüren wir ein leichtes Verhalten (Geschwindigkeit null), spüren wohl aber unser 'Potential', bevor wir uns ins nächste schwingende Ereignis stürzen. Wäre es möglich, dass wir am Bau diese Bewegung als "inhärente" wahrnehmen? Bei dieser Erklärung spielte aber erneut der Rhythmus der architektonischen Struktur eine Rolle. Rhythmus finden wir aber in dieser Öff-Öff-Production aber keinen. Rhythmus ist bis auf eine Ausnahme weder im Bewegungsablauf auszumachen, noch in der Musik. Damit scheint aber die Aufführung wie auseinanderzufallen. Das Gelände ist weit, die Tänzer verliert man aus dem Blick. "Das ist bezweckt" bemerkt Heidi Amisegger, "es geschieht wie in der Natur: auf einen Ruf eines Horns oder Tiers folgt eine Antwort. Man weiss nur nicht wann, und nicht wo."
Ja, auf manchem Gelände kann man sich halt auch verlieren. Eines ist sicher, wenn man sich auf eine site-specific-Veranstaltung begibt: unmöglich zu wissen, was einen erwartet am betanzten Platz.
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