erschienen in Ensuite Nr. 78 S. 11-13:
Tanzausbildung taucht aus dem Untergrund auf
Kein Schweizer Tänzer hat derzeit ein landesweit anerkanntes Diplom in der Tasche. Was schert man sich auch um ein Stück Papier, wenn die Bretter der Bühne einem die Welt bedeuten und auf ihr das pure Können zählt? Kein Theaterdirektor hat je einen Blick auf Diplome verschwendet, Kunst kommt von Kön
nen und das sieht (oder hört) man. Daran wird sich auch nichts ändern. Dass hinter der Bühnenreife 8 Jahre täglicher Einsatz steckt, braucht nicht eidgenössisch erkannt oder gefordert zu werden. Die zuckenden Kinderbeine fanden schon immer ihren Weg. Bei den einen zum Fussballplatz bei den anderen ins Tanzstudio. Die Hüpflust vor der Ritalin-Ära war Antrieb genug, nachmittags anzutanzen. Kleine Aufführungen brachten den Flair und die Freude am Fortschritt tat das übrige. Woher die Not also für ein Zertifikat? Zum einen hüpft es sich richtig oder falsch. Falsches Einüben kann zu Knieschäden führen. Schon lange trachten deshalb Fachverbände danach, pädagogische Qualitäten flächendeckend zu sichern. Tanzpädagoge ist bislang ein ungeschützter Beruf. Neue Qualifikationen wie das Weiterbildungsdiplom (seit 2004) oder gar -master in Tanzpädagogik (seit 2007) an der Züricher Hochschule der Künste (ZHdK) sollen da Kriterien liefern. Die Sorge um Gesundheit und Qualität ist ein Grund für den Zertifikatsfieber. Der zweite ist die Einsicht, nach jedem noch so erfolgreichen Hüpfen gibt es ein 'danach', jenseits vom professionellen Tanz (vgl. Ensuite Nr. 76): die Rekonversion. Die berufliche Umschulungsinstanzen fragen nämlich nach ertanzten Diplomen. Der dritte Grund ist strategisch: Diplome führen zu gesellschaftlicher Anerkennung. Und diese fängt bei den Eltern an: "Es sind oft die Eltern, die die tanzlustigen Kinder bremsen", meint Patrice Delay, Leiter der von Balanchine gegründeten Genfer Schule und des Ballet Junior. Wenn sie öfters kommen wollen, winken die Eltern ab. 'Das führt doch zu keinem Beruf!', die Väter deuten auf das tägliche Schwitzen ihr
er Sprösslinge und sehen keine Perspektive. "Besonders hier in der Schweiz", fügt der europaerfahrene Leiter hinzu. Rücken Schulen etwa deshalb vermehrt in die Nähe von Sportsvereinen? Die Jagd nach Medaillen als Ersatz für Anerkennung? Als Legitimation? Auf den Schul-Webseiten prangen die glänzenden Verdienste und Tanz wird messbar.
Qualifizierte Lehrer
Medaillen haben bekanntlich ihre zwei Seiten. Sie spornen an, sie stellen Talente erstmals einander gegenüber, dann nebeneinander und dann auf ein Podest. Aber es gibt die zweite Seite der Medaille. Diese recht unkünstlerische, bisweilen gar unmenschliche Seite vertanzt gerade das Béjart-Ballet in Le Concours. Doch wie es unserer Wettbewerbsgesellschaft gerade ergeht, könnte es auch dem preisverliebten (Ballett)Tanz ergehen. Auch sie könnte die Ernüchterung nach einer Krise ereilen. 'Immer schneller immer besser' ist eben nicht nachhaltig. Technische Versiertheit kann forciert werden. Gesundheitliche Strapazen und Risiken nehmen ehrgeizige Schüler wie Schulen in Kauf, denn die Ausfallquoten tauchen in den Bilanzen nicht auf. Oder haben Sie schon irgendwo von der Zahl der Verletzten und Abbrecher in Akademien oder Schulen gelesen? Damit sich Schulen aus dem Profilierungswahn über Preise lösen können und auf nachhaltige Werte setzen, sind geregelte Lehrerqualifikationen nützlich. Nützlich sind sie auch, um andererseits dem Diletantismus im Amateurunterricht fehlhüpfender Kinder zu begegnen. Die Förderung der Freude der Kleinen am kreativen Schaffen ebenso wie die unspektakuläre technische Grundlagenarbeit hätten mit Zertifikaten unabhängige Legitimation.
Was aber besorgte Väter letztlich in ihrem Zweifel umstimmen können wird, ist die Perspektive auf eine Berufslehre mit eidgenössisch anerkannten Fähigkeitszeugnis (EFZ) für BühnentänzerInnen. Erstmals angeboten ab 2009 Herbst in Zürich.
Tanz oder Schule?
Wie andere musische Fächer winkt auch der Tanz am Ende des Tunnels eines arbeitsamen Schülertages. (Und dem Mama-Taxi davor der Stau). Musik oder Malerei brauchen aber keine Früherkennung von Talenten und keine tägliche Pilgerfahrt zum Ritual. Einzig der Tanz fordert Bühnenreife im Alter von achtzehn, um in den besten Jahren zu ernten. Und nur der Tanz übt sich nicht allein. Und so verstopfen täglich hunderte Bewegungshungrige erst einmal die Strassen, bevor sie sich an die Ballettstange reihen. Wen wundert's, wenn Schule und logistisch involvierte Eltern darunter leiden? Wenn Tanz und Schule unvereinbar wird? "
Mit der täglichen Mittagspause, dem vierfachen Schulweg, kann die Schweiz nicht das Arbeitspensum der Nachbarländer schaffen", meint Marjolaine Piguet, Leiterin der "Danses Etudes" in Lausanne. Sie hat während ihrer Ausbildungszeit im Ausland vorteilhaftere Tagesabläufe kennengelernt.
Tanz und Schule sollen nun versöhnt werden. Ganz nach dem Vorbild des Lausanner SAEF-Gymnasiums (Sport-Arts-Etudes-Formation), wo gute Schüler ihren musischen oder sportlichen Schwerpunkt in den leicht entschlackten Schulstundenplan integrieren können, hat wenige hundert Meter entfernt Marjolaine Piguet dasselbe für den Tanz geschaffen: "Danse Etudes". Über 30 Kinder besuchen tagsüber die Sekundarstufe (I und II) in nächster Nähe und schlüpfen im Tagesverlauf mehrmals in Trainingshaut. Jedes Jahr schneidert sie als Mitverantwortliche des Collège Béthusy ihren Tanzschülern einzeln den Stundenplan zurecht und stopft Löcher bei Bedarf mit Mathematik- oder Deutschnachhilfe. Doch Schulleistungen seien nicht das Problem. 80 % ihrer Schüler sind ohnehin auf dem Gymnasium oder der gymnasialen Mittelstufe. 2003 hat "Danse Etudes" begonnen und eine Tänzerin mit Matura bereits geliefert. Gleich im Anschluss wurde diese von Patrice Delay in das Genfer Ballet Junior übernommen.
Fünf Minuten mit der Metro vom Bahnhof und hundert Schritte von der Station Ours ist das mutige Projekt Realität geworden, das Tanz und Schule verknüpft. Mit dieser guten Lage möchte sie eine Lösung für Begabte der ganzen Westschweiz bieten. Ein Junge kommt etwa täglich aus Freiburg. Dass bisweilen nicht mehr als sechs pro Tanzklasse teilnehmen, erklärt die Leiterin so: "viel grösser ist die Ausbeute wirklicher Talente der Region nicht". Von der luxuriösen Überschaubarkeit solcher Klassen profitiert das Ambiente und die Leistung. Aber auch die Schulaufgaben zwischendurch, denn Disziplin und Motivation stecken an. Mit zwei bis vier modernen bzw. zeitgenössischen Tanzstunden die Woche ist die Ausbildung relativ fortschrittlich. Obwohl wie aus einem Munde die Schüler hier nach "mehr" rufen. Die Leiterin erwägt durchaus einen Ausbau, denn in der Region soll eine eidgenössisch anerkannte Berufslehre für zeitgenössischen Tanz entstehen. - Falls, ja falls deren stilistische Ausrichtung eine Vorbildung überhaupt vorsieht.
Eidgenössisch anerkannt in der Westschweiz
Wenn die Deutschschweiz die Berufslehre Bühnentanz klassischer Prägung haben wird, so die Westschweiz diejenige zeitgenössischer. Im Jahr 2010 soll's losgehen, doch Inhalt und Ort wird seitens des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT) erst dieser Tage publik. Ob Lausanne oder Genf ansteht, ist weniger entscheidend als der stilistische Anspruch. Während im modernen Tanz sich eine Methodik und ein fester Lehrkanon entwickeln konnte (z.B. mit der Limon- , Graham- und Cunningham-Technik), so sind die zeitgenössischen Stile noch nicht autonom 'tänzerbildend'. "Mit der Zeit haben die unterschiedlichsten Stile, auch der Jazztanz, den Trainingsablauf und viele Übungen des Balletts (von pliés über tendus bis grosse Sprünge) sich einverleibt," meint Caroline Lam, diplomierte Lehrerin für zeitgenössischen Tanz. So widmete sie sich erst eingehend dem Jazz in Paris und konnte dennoch mit achtzehn Jahren in den klassischen Tanz einsteigen. Das klappt offensichtlich, denn nach ihrer Tanzausbildung zirkulierte sie 'zeitgenössisch' in der schweizer freien Szene.
Doch beim neuen Lehrgang steht zur Diskussion, ob - ganz nach dem Vorbild des Choreographiezentrums der Loirestadt Angers - überhaupt eine Vorbildung vonnöten sei. Bei der Mangelware 'tanzender Mann' gab es solche Konzessionen schon immer. Doch die vielen fieberhaft tanzenden Jugendliche lockt eine solche Toleranzschwelle kaum. Im Alter von 15-16 Jahren können sich viele gar nicht vorstellen, von ihrer täglich feilenden Arbeit zu lassen und mit Tanzunkundigen erst einmal zusammen zu improvisieren... Die scharfe Zweiteilung der Tanz(ausbildungs)landschaft klassisch vs zeitgenössisch kommt ihnen nicht gelegen.
Durchlässigkeit quer
Aus der Projektphase der neuen dreijährigen Berufslehre zeitgenössischer Tanz in der Westschweiz ist zu hören: "Die Kluft zwischen Klassik und Zeitgenössisch soll überbrückbar werden. Wer nach den ersten fünf Monaten merkt, er habe die falsche Ausrichtung gewählt, soll wechseln dürfen. Im Prinzip." Es soll also nicht nur der Röstigraben samt Sprachbarrieren überwindbar sein, sondern auch der Graben zwischen (system)freien zeitgenössischen Tanz und dem Ballett à la Waganova russischer Prägung? Die Zukunft wird es zeigen ... , und der Entscheid der künftigen Leitung.
Anschluss nach oben
Nichts wengier als die Entwicklung eines ganz eigenen Systems im zeitgenössischen Tanz verspricht die Leiterin des Bachelor-Programms in Zürich, Prof. Tina Mantel. Das BA (Bachelor of Arts) ist ein weiteres Zertifikat, das das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT dem Tanz dieses Jahr vermacht. Der erste Studiengang beginnt kommenden Herbst an der Züricher Hochschule der Künste. GaGa heisst das System und hat seine Wiege in Jerusalem, in der Batsheva Dance Company. Der berühmte Choreograph und Direktor Ohad Naharin liess seine (klassisch ausgebildeten) Tänzer anfangs einmal, mittlerweile fünfmal pro Woche 'GaGa werden', um sie aufzulockern. Diese Improvisationsmethode verhilft zur ganz eigenen Bewegungssprache, wenn man bereit ist, den angeeigneten Codex aufzubrechen. Géraldine Chollet, die künftige GaGa-Lehrerin des Studiengangs, die selbst den Weg nicht in die begehrte Companie fand, verfolgte unbeirrt diese Methode in Naharins Workshops. Sie überredete ihn, der Methode eine Methodik und ein System abringen zu lassen. Mit fast täglicher Anwendung und jährlichem Besuch aus der Batsheva Company möchte sie genau das in Zürich bewerkstelligen: ein pädagogisches System. Zürich als Labor für die Batsheva Company? Prof. Tina Mantel lacht: "Ja, durchaus." Wenn das Experiment
klappt, wünscht man ihr auch das Patentrecht.
Fast gleichwertig mit den praktischen Fächern der Tanzfertigkeit sind solche der"Gestaltung/Produktion" und "Wissen/Reflexion", wie es im Studienplan heisst. Darunter fallen 'Performance Research', 'der akustische und der virtuelle Raum' sowie 'transdisziplinäre Projekte', Kulturmanagement, Anatomie und Dramaturgie. Deshalb erwartet die Leiterin (Berufs-)Maturität von ihren Studenten und das Mindestalter von 18 Jahren. Da gute moderne und zeitgenössische Vorausbildung nur verstreut zu haben ist und kein brotbringender Beruf wartet, ist manch aufgenommener Bewerber ein fertiger Primarlehrer und auch mal 25 Jahre alt.
Ob Prof. Tina Mantel sich auf die zertifizierten Abgänger der neuen Berufslehre zeitgenössischer Tanz der Westschweiz freut? "Ja und nein," sagt sie "die besten werden wohl tanzen gehen und nur ehrgeizige, intellektuell Neugierige hängen weitere drei Jahre an." Für welchen Beruf der Studiengang demnach vorbereitet, muss erneut die Zukunft zeigen.
Junior Ballette
Nach der Gründung des NDT2 1978, einer dem Nederlands Danse Theater angegliederten jungen Companie, verbreitet sich das Phänomen: Grosse Companien leisten sich eine Jugend - was heisst: sie lagern die Jungen aus ihren Reihen aus. "Immer weniger Tanztruppen können sich die Betreuung und das Risiko mit unerfahrenem Nachwuchs leisten", meint der Genfer Junior Ballet-Direktor Patrice Delay, der in den 80ern noch in den Genuss ebendieses Luxus des Königlichen Flämischen Balletts kam. Am Genfer Theater engagiert man mittlerweile nur erfahrene Solisten, meint Patrice Delay, der sich damals mit der Zeit zum Solisten mausern konnte. Seine Junior-Truppe ist allerdings nicht ans Theater angegliedert, sondern seit knapp 30 Jahren an die private Schule Ecole de danse de Genève. Der hochkarätige Unterricht und Gastchoreographen ersten Kalibers locken jährlich hundert Bewerber aus aller Welt - um gehaltfrei zu tanzen. Sie sammeln Erfahrungen. Ja, in grossen Companien würden sie in der hintersten Reihe im Chor tanzen. Hier profilieren sie sich in spannenden Rollen, so verschieden wie die Weltklasse-Choreographen selbst - ein idealer Präsentierteller für künftige Arbeitgeber, die auch regelmässig geladen werden. Das Junior Ballett von Heinz Spoerli (seit 2001) erhält die gleichfalls zweijährige Ausbildung an der hauseigenen Opernakademie. Es profitiert von den Werken des Meisters, für die eigenen Tourneen von der Logistik des Hauses und für Stipendien von dessem Know-How: "wir haben den grössten und besten Sponsorensammler", erklärt das Ballettmanagement. Zwischen 18 und 21 oder 23 Jahren bietet das weltweite Phänomen Junior Ballett also hervorragende Weiterbildung mit Einstiegschancen in die Arbeitswelt. Ein Nachgeschmack bleibt: Die ertragreichen Tanzjahre schrumpfen, nicht nur vom jenseits her (vgl. Rekonversion schon mit dreissig, Ensuite Nr. 77), sondern auch diesseits vom Tanz.
Tanzakademie Zürich schleust Schweizer an die Spitze
Von 19 Tänzern im Junior Ballett Zürich sind 2 Schweizer, von 20 in Genf nicht mehr. Beim weltweiten Andrang ist dies nicht überraschend. Doch die neue Züricher Akademieleitung, Steffi Scherzer und Oliver Matz, hat sich 2004 vorgenommen, hauseigene Talente von klein auf heranzuzüchten. Die Früchte sind herangereift und man füllt die höhere Ausbildungsstufe nicht mehr mit auswärtigen Schülern. Ab diesem Herbst sind 12 von 15 Schüler 'eigene Kultur'. Auch das Internat wird vermehrt zum Gewächshaus für 'heimische Sorten' denn exotische. Zur Erntezeit finden 90 % der Ausgebildeten Abnehmer, Häuser wie das NDT2 in Den Haag, das Stuttgarter Ballett - oder eben vor Ort Heinz Spoerli. Dass sie bei so vielseitigen Companien einsetzbar sind, ist der stilistisch aufgeschlossenen Kultivierung zu verdanken: Fast täglich steht auch Limon, Graham oder zeitgenössischer Tanz auf dem Stundenplan.
Zum Aufstieg der Berufslehre in die Liga derer mit "eidgenössisch anerkanntem Fähigkeitszeugnis" in diesem Herbst, gehört allerdings auch noch was anderes auf den Stundenplan. Nämlich Fächer für die Berufsmatur. Für dieses Finale im Kampf um Anerkennung muss sich die Leitung aber noch qualifizieren. "Das kommt", sagt sie siegesbewusst.
Steffi Scherzer gibt ihre Erfahrung Schweizer Lehrern weiter. Sie ist für die Lehrerbildung verantwortlich, seit 2007 in Form eines Masterstudiengangs. "Sie sollen nicht auf Preise hinarbeiten!" empfiehlt sie den Tanzpädagogen. "Wir haben in der Profischule natürlich mehr Zeit als die Privatschulen und müssen einzelne Talente nicht auf Preise hinpushen. Die sorgfältige Waganova-Methode, die hier angewendet wird, lässt die Kleinen vorerst nicht viel bewegen. Folglich erzielt unsere Akademie in der Kategorie der Jüngeren auch keine Preise".
Neben den Zertifikaten rund um die praktische Ausbildung spriessen auch solche der akademischen. Die relativ junge Disziplin Tanzkultur, ein Weiterbildungsstudium in Teilzeit an der Universität Bern, baut aus. Neben dem Diplom wird da ab 2010 auch ein Master angeboten. Die Theaterwissenschaft in Bern bietet ihren Master schon seit 2007 in Tanz an. Hoffen wir, dass vor lauter anerkennenden Zertifikaten dem Land das Geld für die Orte der Produktion nicht ausgeht. Dem Bern-Ballett drohte man im Mai mit der Auflösung...
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