Lettres Intimes von Leo Janacek ist eines der leidenschaftlichsten Stücke inniger Kammermusik und in seinem modernen respektlosen Strich so nah an unserer Zeit wie kaum eines.
Der Komponist brannte seine späte Liebe zu einer verheirateten jungen Frau in glühende Töne. Da vermag der Tanz, zumal in klassizistischem Antlitz, nicht viel hinzuzusetzen. Paarbeziehungen darzustellen ist ein so altes Sujet wie das Ballett selbst und Liebes-Pas-de-deux sind so zahllos wie Sand am Meer. Die Musik dagegen ist unverbraucht und erdrückend. Das war Heinz Spoerli durchaus klar, was er im Programmheft für seine erste Premiere der Spielzeit 2009/10 ehrlich bekennt. Seine Stärke entfaltet sich entsprechend auch nicht im verbildlichenden Paartanz sondern in dessen Austausch mit der Gruppe.Der einsame Beginn allerdings ist beeindruckend an sich. Mit weitausholender, aber einseitig hinkender Schrittfolge prescht der Protagonist (Arsen Mehrabyan) hervor, wie um seiner inneren Unruhe zu entkommen. Er dreht sich um seine Achse, die aber nicht zentriert ist. Sein Blick hängt am Himmel. Die Hauptfigur, die die zehrende letzte biographische Episode Janaceks verkörpert, wird auch so enden : er windet sich einsam um seine verdrehte Achse, den Blick emporgerichtet, und fällt zu Boden. Ein Anklang daran, dass Janacek sein Werk, das Liebeszeugnis, nicht mehr aufgeführt erleben konnte ? Arsen Mehrabyan ist ein künstlerisch reifer Tänzer, der durchweg – selbst zu Diensten der Partnerin – ausdrucksvoll präsent ist. Seine Partnerin Aliya Tanykpayeva dagegen bleibt, wohl zu recht, blass in der Rolle. Ihren Ausdruck scheint Heinz Spoerli in die sie spiegelnde Frauengruppe verlegt zu haben. Wenn fünf Frauen weiblich-zart immer wieder (auf hoher Spitze) in den Knien einsinken und einsacken oder ihre Arme ganze Sequenzen hindurch dicht am Körper gehalten bleiben, zeugt dies von zurückgehaltener Leidenschaft. Ein genialer Einfall und ein Beweis für die virtuose Klassik : weniger ist oft mehr. Auferlegte Beschränkung bringt das klassische Ballett erst zum Wirken.
Auch die Gruppe der Männer akzentuiert die verhandelte Emotion. Wenn sie
das hinkende Leitmotiv des Einsamen in ihrer Mitte in einem folkloristischen Ausfallschritt verwurzelt oder umgekehrt gelesen, der Einsame aus ihrer Mitte entwurzelt zum Hinkenden wird.Ein anspruchsvolles Stück auf anspruchsvolle Musik wie das von Spoerli ist ein seltenes und hehres Anliegen in einer dekonstruktivistisch geprägten Tanz(experimentier)landschaft. Es hätte aber gern radikaler ausfallen können.
Nach einem kurzen Stück von Hans van Manen, Sarkasmus (1981), das sich von früher bewährten Schritten und manchem Slap-Stick nährt, trumpft das Züricher Ballett mit einer Schweizer Uraufführung der erfolgreichen Amerikanerin Twyla Tharp auf : The Upper Room (1986)
Dem kalkurlierten Sog der minimalistischen Musik von Philip Glass möchte man
nach 20 Jahren Abgeklärtheit nicht ohne weiteres erliegen. Doch da weht auf der Bühne des Züricher Opernhausesein so jugendlicher Elan uns entgegen, dass er all unsere Vorbehalte hinwegfegt. Weg die Bedenken gegen den ach-so-leichten Umgang der Postmoderne mit der Tradition. Weg die tadelnden Gedanken gegen die Spielkasten-Manier im Baukasten der Stile. Heiter joggen schwarzweiss gestreifte Seidenpyjamas herbei und entblössen erfrischend rote Akzente: Rote Spitzenschuhe stechen Arabesquen in den Boden, allerdings kopfüber gesenkt, symetrisch ausgelotet : für den Partner ein Kreisel zum Zwirbeln. Rote Sportsocken lugen aus Turnschuhen hervor, die gern mal flachsohlig auf den Boden klatschen. Kantige Genauigkeit wechselt mit cooler Flapsigkeit, das Klassik-Erbe mit Pedestrian-Casualness der 68er. /1/
Kontrastkitsch ist auch in der Musik angesagt. Die endlose (von einem überdrehten Metronom gedrängte?) Klavierfingerübung überzieht ein süsslicher Geigenklang, dann kündet über tiefgezupften Bass-Saiten in ätherischer Ferne eine Trompete ihren Höhenflug. Nicht scheut Glass die hingehauchten Flötentöne zu bemühen und schliesslich die Vokale eines Halleluja in den ‘oberen Raum’ auffahren zu lassen. Doch so wie die (Hör)Sinne wider besseren Wissens mit uns durchgehen, so lassen wir uns auch bereitwillig vom Sehsinn mitreissen.
Aus allen Ecken sprengt die Jugend hervor. Paarweise oder in enger Viererformation zieht sie hier und da wie zusammengesetzte Atome ihre Bahn, in Diagonalen, grossen Kurven oder quer und ab. Wie von der Gegenseite magnetisch angezogen. Und kommt dann auch als neues Molekülgebilde aus der Kulisse geschossen. Leicht versetzt oder synchron peitscht sie eine Serie seitlicher Sissonnes (beim Sprung aufgespreizte Beine) über die Bühne : jugendliche Aufgedrehtheit als Gag. Als im Überschwang die Köpfe wie im Discofieber die Synkopen mitwippen wird eins klar : Heinz Spoerli hat der jungen Companie ein immenses Geschenk gemacht. /2/ Ihr Strahlen wird viel Potential (in der Technik und Persönlichkeit) locker machen. Wenn am Ende über ihnen der Seilboden sich auftut und sie vom Licht überflutet werden aus dem « Upper Room » - ist das eine Verheissung.
/1/ Die Avantgarde um Steve Paxton herum, welche in den frühen 70ern u.a. zur Contact Improvisation führte, wurde häufig ihrer Gangart wegen, einem gewöhnlichen Laufen, gern 'Pedestrians' genannt.
/2/ Das Geschenk ist eine folgerichtige Erweiterung des Repertoirs nach dem letztjährigen Artifact von Forsythe. Dieser hatte sich noch als Tänzer von Twyla Tharp wegen ihrer analytischen und gleichzeitig unterhaltsamen Choreographieart beeinflussen lassen, vgl. das Interview mit Wendy Perron, in Roslyn Sulcas Dance Magazine 2006 april 1)