Das erste Tanzstück in der Budapester Eiffel-Werkstatt:
Die Kreuzkantaten von Csaba Horvath
In einer Zeit, wo Kreuze abgehängt werden, christliche Inhalte nicht als Publikumsmagnet gelten, ist das neue Stück Kreuzkantaten der Oper Budapest (Premiere am 28.03.2022) zumindest marktstrategisch inkorrekt. Auch ästhetisch verspricht der Titel nichts Bahnbrechendes.
Dass die Produktion mit diesem Titel auf Europa-Tourneen nicht einen Siegeszzug antreten würde, liegt auf der Hand. Zu nah sind Assoziationen mit Kreuzzügen, und die Empfindlichkeit Andersgläubiger möchte niemand reizen.
Es gibt auch kein Ansinnen, Grenzen zu überschreiten. Selbst wenn Sprachensprünge und englische Übertitel darauf schließen ließen.
Die Kreuzkantaten sind gut platziert hier, in Ungarn: Die frisch für die Künste aus der (Restaurations-) Taufe gehobene ehemalige Lokomotivenwerkstatt ist idealer alternativer Aufführungsort für zeitgenössische Kunstformate. Und spricht die Jugend an.
Das erste Bild (Bühnenbild: Zoltan Kalászi) offenbart unser Spiegelbild. Die dunklen flatternden Mäntel, eiligen Schritte des Alltags, mit Aktenkoffern treppauf-treppab, die Karriereleiter hinauf und hinab, sich kreuzende Wege ohne Blickkontakt: es webt sich unsere Gesellschaft, eine dichte Textur. Eine scharfe Wendung in unserem Gang? Abrupter Neubeginn? Nichts als ein Kontrapunkt der Musik.
Die dunkle Monotonie bricht an Stellen auf, wie Stoßseufzer klingen einzelne Verse durch, die Bewegungen gefrieren. Die Kantate webt sich in das Geschehen, das Stoßgebet durchsetzt unseren Alltag.
Farbiger ist unser Privatleben: keines gleicht dem anderen, – doch alle Paare kämpfen. Als ob sie unter fremdem Einfluss stünden. Hysterisch geblendet die eine, der Partner führt beruhigend ihren Weg; labil aus dem Gleichgewicht kippend die andere, ihr Partner richtet sie unentwegt auf. Übermütig-überbordend junge Männer, sie bieten einander den Rücken, um das Hyperaktive im großen Radius – in der Luft – abzufangen, abzuleiten, zu erden.
Die Farbenpracht der Jugend ist auch die der Bewegung: während der eine rapt, breakt und stoppt im freeze auf dem Kopf, tanzen die anderen locker Release, biegen-lehnen am anderen. Die Wogen des bunten Nebeneinander im Disco-look glätten sich an Stellen, wenn waagerecht was ruht, und der Bass (István Kovács) „Schlummert ein, ihr matten Augen” beruhigend tönt.
Die Jugend rafft sich immer wieder auf, sucht und jagt mit endloser Kreativität nach Flucht- und Ausbruchmöglichkeiten ("Da entkomm ich aller Not / Die mich noch auf der Welt gebunden").
Die quirligen Tanzschritte von Party-Paaren, die sich zuweilen auch zu Pyramiden türmen, stehen in seltsamem Kontrast zum weiteren Text: "Hab ich doch kein Teil an dir / Das der Seele könnte taugen". Auf die Spitze treibt dies Bach selbst, wenn er leichtfüssige Sechzehntel im 3/8 Takt den Jenseitsfreudentanz perlen lässt: "ich freue mich auf meinen Tod".
Die nächsten Bilder des einstündigen Werkes sind die der Passion. Der Kreuzstab, der zu tragen ist, ist aus dem Bodenmuster ablesbar. Die schweren Schritte, entlang eines Weges, vereinzeltes Stolpern, Wegkippen, sind dynamisch-verflüssigte Metaphern jenseits jeder Symbolstarre. Sie erlauben ein Schillern, wenn sie von Mal zu Mal in eine barocke Quadrille überschwappen. Vergessen wir nicht die Zeit von Bach.
Das sich kreuzende Bodenmuster ist ablesbar, vierfach, die Parallelen und rechte Winkel einander verstärkend. Ganz wie die Cis-Kreuze in Bachs Partitur.[1]
Im Rezitativ ‚Mein Wandel auf der Welt ist einer Schiffahrt gleich‘ fährt zur Wellenbewegung eines Cello eine in blau getauchte Figurengruppe über die Bühnenfläche. Eine großangelegte Selfie-Pose? oder Sebastian Brants Narrenschiff? Die Zuschauer werden vielleicht noch Hieronymus Boschs Narrenschiff aus der wenige Kilometer entfernten aktuellen Ausstellung (Museum der Bildenden Künste) vor Augen haben. Entschuldbar ist unter diesem Eindruck vielleicht das anzügliche Fell-Underwear (Kostüme: Mari Benedek ).
Insgesamt ist das Werk eine sehr sehenswerte, unterhaltsam-tiefsinnige Produktion, dessen Physical-Theatre (Forte Tanzcompagnie) die Intensität verantwortet. Es wird noch jahrelang im Repertoire bleiben – vielleicht zur Freude mancher Touristen, die sich nicht vor christlichen Inhalten scheuen.
[1] Im Autograph ersetzte Bach mitunter das Cis-Symbol umgekehrt analog zum Kantatentitel durch X stab